Foto: Peter von Felbert

14. September 2021
Lesedauer 6 Minuten

Vielleicht ist es ja wirklich das Klima. Irgendwie, sagt Manfred Winkler, während man mit ihm in der Birnenplantage steht – Williams Christ, Conference, Novemberbirne –, irgendwie ist hier ein spezielles Klima. Und natürlich denkt man, Klima, das kann ja auch im übertragenen Sinn gemeint sein. Doch Winkler meint tatsächlich Temperatur und Niederschlag und Vegetationsperiode; milder sei es hier als nur wenige Kilometer weiter.

Aber zum Teufel, die Gedanken schweifen trotzdem ab, der Blick wandert über die Landschaft, das hügelt so nett vor sich hin, unten im Tal fließt das Flüsschen Schwabach, dahinter erhebt sich Gustenfelden, umgeben von Feldern und Wäldern, die alle zum Dorf gehören … und als der Blick wieder zurück wandert, watschelt da doch tatsächlich eine große Gänseherde über die Wiese.

Gustenfelden an der Schwabach
Gustenfelden an der Schwabach. Foto: Peter von Felbert

Gehören die auch dazu? Ja, sagt Manfred Winkler, die sind vom Wagner. Irgendwie gehört hier alles dazu, alles greift ineinander. Der eine hat Gänse und Hühner, aber auch Kühe, produziert Milch und Eier und Käse und Joghurt. Der andere hat eine Mühle, verkauft Mehl und Müsli und das Brot, das der Bäcker aus seinem Mehl gemacht hat, und noch manches andere. Der dritte ist Metzger, aber zugleich auch sein eigener Bauer, hat 400 Schweine und macht daraus Wurst und Schinken und Leberkäse. Und der vierte hat 20 Hektar Äpfel, Birnen und Zwetschgen, Erdbeeren und Tafeltrauben, und obendrein macht er noch einen feinen Schnaps. Und alles wird direkt im Dorf verkauft, in vier Hofläden. Das ist das Wunder.

Gustenfelden, 400 Einwohner, zwischen Schwabach, Nürnberg und Ansbach, ist eines dieser Dörfer, in denen heutzutage normalerweise gar nichts mehr los ist. Der einzige Gasthof hat dichtgemacht; zum Einkaufen müsste man nach Schwabach fahren oder in eines dieser Gewerbegebiete, in denen sich der übliche Einheitsbrei aus Discountern und Flachbauten ausbreitet. Doch nach Gustenfelden kommen die Leute selber zum Einkaufen. Aus Nürnberg, aus Ansbach, aus der ganzen Region. Einkaufserlebnis pur, wie die Werbeleute sonst immer sagen, aber eben ohne Marketinggedöns und Hochglanzprospekte.

Auf der mentalen Landkarte Mittelfrankens ist Gustenfelden fest verankert. Manche Familien machen ihren ganzen Wocheneinkauf hier, daneben kommen auch Handwerker und Angestellte, die in der Gegend zu tun haben und nur schnell eine Leberkässemmel holen. Wenn man Kunden fragt, warum sie herkommen, sagen alle ähnliche Sachen: Die Atmosphäre sei toll, die kurzen Wege angenehm; vor allem aber sei die Qualität der Produkte super und die Tatsache, dass man sieht, woher das alles kommt. Und wenn alle so ähnlich reden, denkt man, muss ja was dran sein.

Spezialisierung statt Preisdruck, Handwerk statt Massenware – das schuf die Basis

Geplant war das übrigens gar nicht. Jedenfalls nicht so, wie es sich heute darstellt. Und wenn man versucht, herauszufinden, wie alles gekommen ist, wie es diese stimmige Form angenommen hat, dann wird klar: Die eine große Vision, die gab es eigentlich nie. Zwar gab es 1997, organisiert vom Landwirtschaftsamt, ein großes Fest unter dem Motto „Ein Dorf stellt sich vor“, das ein bisschen wie eine Initialzündung gewirkt haben muss.

Damals entstand die Idee, die eigenen Produkte konsequenter im Dorf zu verkaufen und gemeinsam zu vermarkten. Aber letztlich waren es viele Dinge, die zusammenkamen: eine Kombination aus Fleiß, Zielstrebigkeit, langem Atem und dem klugen Ausnutzen von Chancen. Alle vier Familien standen ein- oder mehrmals vor großen Entscheidungen, die sich im Nachhinein als richtig herausgestellt haben; Entscheidungen, die in manchen Fällen viel Mut erforderten.

Der Vater von Manfred Winkler etwa war Mitte der 90er-Jahre mit der Frage konfrontiert, ob er den Tabakanbau, von dem der Hof mehrere Generationen lang gelebt hatte, fortführen oder ob er etwas Neues wagen sollte. Er entschied sich dafür, praktisch von Null auf einen Obstbaubetrieb aufzuziehen, was massive Investitionen in Gebäude und Plantagen bedeutete – obwohl sein Lehrer in Veitshöchheim ihm abriet. „Aber das Landwirtschaftsamt und die Bank haben mich unterstützt“, sagt er. „Und vom Image her ist man als Obstbauer besser dran wie als Tabakbauer.“

Manfred Winkler junior schätzt es sehr, dass sein Vater von Tabakauf Obstanbau umstieg. Er betreibt auch eine kleine, feine Brennerei. Foto: Peter von Felbert

Stefan Winkler wiederum, mit dem anderen Winkler entfernt verwandt, stand mit seiner Mühle vor der Frage, ob es nicht eine Alternative geben könnte zum aussichtslosen Preiswettkampf mit den Großanbietern. Und deshalb besann er sich auf sein Handwerk, stellt seither nicht nur Spezialmehle wie Pizza- oder Lupinenmehl her, sondern kauft den Bauern auch Getreide ab, das er nicht selbst vermahlen kann, einfach damit sie es los sind – und kümmert sich dann darum, was draus zu machen.

Zum Beispiel Tierfutter: „Wir haben 40 verschiedene Pferdemüslis“, sagt er mit beiläufigem Stolz. Und seine Frau Susanne mit ihrem Team verkauft im Laden nicht nur Mehl, Backmischungen und Kekse, sondern auch Tee, Naturkosmetik, Tiernahrung und Hunderte weiterer Produkte; ein Café gibt es auch.

Stefan Winkler erteilte mit seiner Mühle dem Preiswettkampf mit den Großanbietern eine Absage. Stattdessen spezialisierte er sich auf handwerklich hochwertige Mehle und stellt Tierfutter her. Seine Frau verkauft die Produkte im zugehörigen Laden und dazu vieles mehr – vom Keks bis zur Naturkosmetik. Fotos: Peter von Felbert
Manfred Wagner (1. Bild rechts) und seine Familie vermarkten nicht nur ihr Geflügel selbst, sondern haben sich auch eine Molkerei aufgebaut, in der sie ihre Milch zu Butter und Joghurt verarbeiten. Foto: Peter von Felbert

Auch die Wagners hatten keinen Masterplan dafür, eine eigene Molkerei aufzubauen. Ursprünglich verkauften sie nur die Eier selbst, die Milch lieferten sie an eine Molkerei. Dann fingen sie an, die Milch selbst zu pasteurisieren. Dann, kleinere Mengen Butter zu machen. Dann Quark. Schließlich Joghurt. Und jetzt sind sie eine richtige kleine, unabhängige Molkerei, wie es nicht viele gibt im Lande. Und die Gänse und Hühner haben sie immer noch.

Jürgen Rosskopf schließlich wollte als Metzger eine Industriekarriere einschlagen, als sich die Chance ergab, den elterlichen Hof zu übernehmen. Er hängte eine Landwirtschaftslehre dran, begann, seine eigenen Schweine zu verarbeiten, entschied sich dagegen, „in die Masse zu gehen“ – und komplettierte das Gustenfeldener Kleeblatt. Seit 2004 hat er seinen Laden neben dem der Obst-Winklers.

Jürgen Rosskopf ist Metzger in der Produktgemeinschaft Gustenfelden
Jürgen Rosskopf ist Metzger aus Leidenschaft. Die eigenen Schweine stehen wenige Kilometer weiter in einem Stall im Nachbarort. Foto: Peter von Felbert

Vier Unternehmer, vier Geschichten. „Jeder gönnt dem anderen den Erfolg“, sagt Jürgen Rosskopf, „aber jeder reitet auch auf der Welle mit, die wir gemeinsam erzeugt haben.“ Und es kommt noch etwas dazu: die Bereitschaft, sich permanent weiterzuentwickeln. Rosskopf beispielsweise tüftelt ständig an den Rezepturen für seine Würste, hat seit einigen Jahren Glutamat komplett durch eigene Gewürzmischungen ersetzt – was Arbeit macht und mehr kostet, aber von seinen Kunden honoriert wird. Wagners haben erst im vergangenen Jahr neue Produktionsräume bezogen. Und die Winklers überlegen sowieso permanent, was sie noch Neues machen können.

Der Antrieb kommt bei allen nicht nur aus der eigenen Überzeugung, sondern letztlich auch von den Kunden. „Wir merken, dass die Leute zunehmend bewusster einkaufen“, sagt Jürgen Rosskopf. In Gustenfelden kann man selbst miterleben, wie und wo die Dinge wachsen, die man später im Laden kaufen kann. Man sieht im Mai die Obstplantagen blühen und fährt an den Erdbeerfeldern entlang, man sieht die Gänse über die Wiese watscheln und auf den Äckern das Getreide wachsen, das Stefan Winkler anbaut, oder die Pflanzen, mit denen Jürgen Rosskopf seine Tiere füttert.

Wer will, kann drei Kilometer weiter nach Leuzdorf zu seinem Stall fahren und durch ein Fenster hineinschauen. „Ich weiß, ich hab hier mein eigenes Futtergetreide, meine eigene Milch, ich hab alles in der Hand“, sagt Manfred Wagner. „Und das ist letztlich auch das, was für die Kunden wichtig ist.“

Bleibt die Frage, warum so etwas nicht auch woanders funktioniert. Nach allem, was man weiß, ist Gustenfelden einzigartig. Zwar gibt es unzählige Hofläden; es gibt die unterschiedlichsten regionalen Vermarktungsinitiativen – aber dass ein Dorf sich komplett selbst vermarktet, dabei so ein umfassendes Sortiment aufbaut und ganz nebenbei auch noch an die 50 Arbeitsplätze schafft, das gibt es nur hier. Doch was ist das Besondere an diesem kleinen Dorf? Taugt es als Modell für andere?

Manfred Winkler überlegt, sagt dann: „Ich glaube, wenn es bei uns so ein Vorbild gegeben hätte, das hätte eher gestört. Weil man dann wahrscheinlich versucht hätte, das zu kopieren, anstatt zu schauen, was funktioniert bei uns?“ Er schaut über die Felder, das Flüsschen, das Dorf, die Augen schmal unter dem breitkrempigen Filzhut. „Ich glaube, letztlich muss jeder seinen eigenen Weg finden.“

Dieser Artikel ist im Januar 2016 im Magazin „Echt Bayern“ erschienen.

Martin Rasper
verstand sich bei den Recherchen besonders gut mit Manfred Winkler senior. Als Student hatte der in München lebende Autor auf einer kanadischen Tabakfarm gearbeitet und konnte nun mit dem ehemaligen Tabakfarmer über Anbau- und Verarbeitungsmethoden fachsimpeln.

Peter von Felbert –
bewegt sich auf dem Grad zwischen angewandter und künstlerischer Fotografie. Jahrgang 1966, seit 1986 Reisen in 101 Länder, darunter Ägypten, Australien, Brasilien, Israel, Nepal, Senegal, Tuvalu und Katar. Er ist Künstler der Galerie Wittenbrink, seine Arbeit „Blaues Land“ wird durch Lumas vertreten, kommerzielle Arbeiten durch Stock4b, Getty und Plainpicture. Mehr auf felbert.de.