Teresa Vicente
Teresa Vicente. Foto: privat

„Die Rechte der Natur sind Realität geworden“

Von Sarah Kröger
24. März 2023
24. März 2023
Lesedauer 5 Minuten
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Blick von oben auf die Lagune Mar Menor an der Südostküste Spaniens. Foto: Jose A., CC BY 2.0, flickr.com

Am 21. September 2022 wurde der Salzwasser-Lagune Mar Menor als erstem Ökosystem Europas der Rechtsstatus einer Person verliehen. Die Bürgerinitiative, die dafür gekämpft hat, hofft, die Lagune so besser schützen zu können. Denn in unserem Rechtssystem ist die Natur bisher nur Rechtsobjekt und hat keinen eigenen Rechtsstatus, wie beispielsweise Menschen oder Unternehmen. Das bedeutet: Gerichtlich kann nur gegen eine Umweltschädigung vorgegangen werden, wenn Menschen unmittelbar davon betroffen sind und klagen.

Doch Teresa Vicente ist überzeugt: Auch die Natur hat ein Recht auf Leben. Die Rechtsphilosophie-Professorin ist eine der treibenden Kräfte der Bürgerinitiative. Im Interview erklärt sie, warum Umweltschutzgesetze ihrer Meinung nach nicht ausreichen und wie ein veränderter Rechtsstatus langfristig zu einem Mentalitätswandel führen könnte.

Frau Vicente, die Salzwasser-Lagune Mar Menor ist das erste Ökosystem in Europa, das Persönlichkeitsrechte erhalten hat. Warum war das notwendig?

Teresa Vicente: In vielen europäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland, Dänemark, England, Schweden und Norwegen gibt es eine Bewegung, die für die Rechte der Natur kämpft. Das Ökosystem Mar Menor mit seinen eigenen Rechten hat dieser großen europäischen Bewegung Auftrieb gegeben und sie auf eine Stufe mit anderen Bewegungen auf anderen Kontinenten gestellt. Auf den beiden Weltklimakonferenzen in Madrid und in Glasgow hatte ich diese Idee vorgestellt. Vor kurzem konnte ich nun auf der Weltklimakonferenz in Ägypten, der COP 27, über unseren Erfolg sprechen.

Es gibt bereits Gesetze zum Schutz der Umwelt. Im Dezember 2021 hat die EU-Kommission beispielsweise beschlossen, Spanien wegen der mangelhaften Umsetzung der Nitratrichtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen. Reichen Maßnahmen wie diese nicht aus?

Das Umweltschutzgesetz ist seit 40 Jahren in Kraft, der erste Klima-Gipfel fand in den 1970er Jahren statt. Seitdem ist es uns nicht gelungen, die Ökosysteme zu retten. Und wir gehen auf noch schlechtere Zeiten zu. Es geht nicht darum, dass die Gesetze nicht funktionieren; natürlich können Sanktionen verhängt werden – wie im Fall der Nitratrichtlinie. Aber für uns, für den Planeten zählt, dass die Ökosysteme sich erholen können. Das Modell des Umweltrechts erkennt nicht an, dass die Natur ein Rechtssubjekt ist, dass sie lebendig ist. So wird ihr Recht auf Leben verhindert. Wir haben nicht verstanden, was uns die Wissenschaft der Ökologie bereits im letzten Jahrhundert gesagt hat: Unser Leben hängt vom Leben des Ökosystems ab.

Wie ist es der Bürgerinitiative gelungen, so viele Unterschriften zu sammeln?

Wir haben dies innerhalb eines Jahres getan, das ist die gesetzlich vorgeschriebene Frist. Das war mitten in der Pandemie: Wir konnten nicht auf die Straße gehen, und die Menschen konnten auch nicht online unterschreiben. Jede Person musste einen eigenen Stift haben, um zu unterschreiben und ihre Daten einzutragen. Mit anderen Worten: Es war die schwierigste Unterschriftensammlung in der Geschichte der Demokratie. Und wir haben es nicht nur geschafft, 500.000 Unterschriften zu sammeln, sondern wir haben knapp 640.000 Unterschriften in den Kongress mitgenommen.

Hintergrund

Biologen warnen seit Jahren davor, dass Spaniens größte Lagune ökologisch stark gefährdet ist. In der Region um die Lagune wird seit Jahrzehnten intensiv Landwirtschaft betrieben. Durch Regen und das Auswaschen des Bodens gelangen die verwendeten Düngemittel ins „Kleinere Meer“, wo sie starkes Algenwachstum befördern. Zersetzen sich die Algen, werden Fischen und anderen Meereslebewesen Sauerstoff entzogen, was in den vergangenen Jahren immer wieder zu massivem Fischsterben führte.

Menschen mit den Füßen im Wasser stehend bis zum Horizont, halten sich an den Händen. Viele tragen Schwarz, als Zeichen der Trauer für die verendeten Tiere, die tonnenweise tot an Land gespült wurden.
Am 28. August 2021 organisieren Umweltschützer eine 73 Kilometer lange Menschenkette entlang der murcianischen Küste. 70.000 Menschen kamen zu der symbolischen Umarmung des Mar Menor zusammen, um auf den verheerenden ökologischen Zustand der Lagune aufmerksam zu machen und gegen die Umweltpolitik zu protestieren. Foto: IMAGO / Lagencia

Welche Änderungen erwarten Sie als Ergebnis des neuen Status des Mar Menor?

Immer dann, wenn eine neue Person oder Entität Rechte zugesprochen bekommt, verändert sich etwas. Rechte erlauben ihr nicht nur, sich zu entwickeln, sondern verbieten auch anderen, sie zu unterdrücken. Als damals die Frauen, Sklaven oder indigenen Völker Rechte erhalten haben, hat dies verhindert, dass sie von anderen als Objekt behandelt und in ihrer Entwicklung behindert werden konnten. Die soziale Gerechtigkeit ist der größte Fortschritt, den wir in der westlichen Welt haben. Aber sie hat es verpasst anzuerkennen, dass der Mensch Teil der Natur ist und die Natur genauso viele Rechte haben muss wie der Mensch. Diese Entwicklung ist also ein Fortschritt, der zu mehr Gerechtigkeit führt. Die soziale Gerechtigkeit geht nun in eine ökologische Gerechtigkeit über. Diese schließt die soziale Gerechtigkeit mit ein, aber eben auch die Natur, die uns das Leben und die Entwicklung als Menschen ermöglicht hat.

Und wer kann nun die Rechte der Lagune vor Gericht vertreten?

Alle.

Alle, die wollen?

Alle Menschen, die das wollen. Denn wir sind das Mar Menor und das Mar Menor sind wir. Um dies effektiver zu gestalten, gibt es drei Ausschüsse, die die offizielle Aufsicht über die Lagune ausüben. Einen wissenschaftlichen Ausschuss aus unabhängigen Expertinnen und Experten, die Indikatoren für den ökologischen Zustand der Lagune ermitteln und über Risiken und Wiederherstellungsmaßnahmen informieren. Dann gibt es den Repräsentantenausschuss, der sich aus Vertretern aus Staat, autonomen Gemeinden und der Stadtverwaltung zusammensetzt. Er schlägt konkrete Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung und Pflege der Lagune vor und kontrolliert die Einhaltung ihrer Rechte. Die Überwachungskommission (die „Wächter“, wie sie im Gesetz genannt werden), ist ein Komitee mit unterschiedlichsten Personen aus Gesellschaft, Recht, Wirtschaft und Kultur, die die Grundrechte der Lagune vertreten und auch die Wahrung ihrer Rechte kontrollieren.

Schon 2019 (am 30. Oktober) riefen verschiedene Bürgerplattformen und Umweltorganisationen in der Stadt Cartagena zur Großdemonstration „SOS Mar Menor“ auf. Nach Angaben der Polizei nahmen 55.000 Menschen an den Potesten teil. Fotos: P4K1T0, CC BY-SA 4.0, commons.wikimedia.org: 1, 2, 3

Was können solche Gesetze bewirken? Können sie wirklich die Einstellung der Menschen gegenüber der Umwelt verändern?

Dies ist der entscheidende Punkt. Ein Beispiel wäre das heutige Frauenrecht: Als damals die ersten Gesetze erlassen wurden, die Frauen als Rechtspersönlichkeit anerkannten, gab es enormen Widerstand. Heute traut sich niemand mehr zu sagen, dass Frauen Objekte sind und keine Grundrechte hätten, egal welcher politischen Anschauung man ist. Im Laufe der Zeit hat das Gesetz also zu einem Mentalitätswandel geführt.

Den Mentalitätswandel gab es aber nur, weil die Rechte von den Frauen immer wieder neu eingefordert wurden. Hat die Bürgerinitiative bereits konkrete rechtliche Schritte vorgesehen?

Rechtliche Schritte können jetzt eingeleitet werden, doch es dauert noch, bis die Entwicklung der Rechtsvorschriften abgeschlossen ist. Der Ministerrat bereitet derzeit die Verordnung zum geltenden Gesetz vor. Das abzuwarten ist besser, auch wenn wir schon handeln könnten. Wir denken aber bereits darüber nach, der Europäischen Union in den kommenden Monaten einen Vorschlag für eine europäische Initiative vorzulegen, die die Anerkennung der Rechte aller Ökosysteme in Europa erleichtern soll, angefangen bei den am meisten gefährdeten. Diesmal wird es einfacher sein, denn in Europa gibt es jetzt einen Präzedenzfall, und es wird künftig möglich sein, Unterschriften online zu sammeln.

Was bedeutet der Fall Mar Menor für andere europäische Länder?

Für die anderen europäischen Länder, die unter dem Zusammenbruch ihres Ökosystems leiden, ist es wichtig zu wissen, dass in Europa ein legaler Weg eröffnet wurde, die Rechte der Natur zu schützen. Das Europa, das nicht zur Europäischen Union gehört, hat sich bereits mit uns in Verbindung gesetzt. Denn auch in Albanien und anderen Ländern gibt es eine Bewegung, die seit vielen Jahren für ihre Flüsse, Wälder und Ökosysteme kämpft. Dieser Präzedenzfall ist für alle, nicht nur für die Europäische Union, sondern für den gesamten europäischen Kontinent und die ganze Welt. Unser Erfolg macht den Kampf für alle einfacher.

Das Interview wurde im November 2022 geführt.

Foto:Merlin-Nadj Torma

Sarah Kröger –
schreibt als freie Journalistin zu den Themen Nachhaltigkeit, Soziales, Arbeit, Bildung und Familie. Unter anderem für „Focus“, „Table.Media“, „Spiegel“, Fachmagazine und die Zeitschrift „Family“. Am liebsten in Form von Fachartikeln, Interviews oder Porträts. Sehr gerne lösungsorientiert.

Sie hostet zusammen mit ihrer Kollegin den konstruktiven Podcast „Und jetzt?“, der sich auf die Suche nach Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen macht und hat außerdem zwei Vereine gegründet, die sich für Chancengleichheit und Diversität einsetzen und Nachbarschaft neu denken. Mehr auf sarah-kroeger.de