Am 15. November gedenken Rechtsradikale im oberfränkischen Wunsiedel ihrer Helden: ehemaliger Nazis, die sie mit einem sogenannten Trauermarsch ehren, so auch an einem trüben Samstag 2014. Seit vielen Jahren protestieren Bürger gegen diesen Aufmarsch. Aber diesmal wird besonders phantasievoll demonstriert, dass Neonazis weder hier noch anderswo erwünscht sind.
Der Aufmarsch wurde kurzerhand umfunktioniert zu einem Spenden-Appell für die Berliner Neonazi-Aussteiger-Initiative Exit-Deutschland. Nach dem Vorbild eines „Charity“-Laufs und mithilfe zahlreicher Spender bringt jeder von Rechtsradikalen gemachte Schritt denen Geld, gegen die Neonazis seit Jahre kämpfen.
Über Wochen wurde diese ungewöhnliche Aktion vorbereitet. Die Idee der Jugendinitiativen aus Wunsiedel und den Helfern aus vielen Bündnissen ist recht simpel: die Demonstration so gestalten, als ob es sich um ein sportliches Ereignis für einen guten Zweck handelt. Mit Bannern und Ermutigungen am Wegesrand. Und Mitteilungen, wieviel Spenden pro gelaufenen Meter eingehen.
Bereits vor dem Start wurden über zehntausend Euro für Exit gesammelt – der Initative, die bisher über 550 Neonazis den Ausstieg aus der Szene ermöglicht hat. Der ehemalige Staatsschützer Bernd Wagner hatte das Projekt 2000 gemeinsam mit dem ehemaligen Neonazi-Kader Ingo Hasselbach und finanzieller Unterstützung der „Stern“-Kampagne „Mut gegen rechte Gewalt“ gegründet.
Vor zwei Jahren sorgten die Berliner bereits mit einer ähnlichen Initiative für Aufsehen. Auf dem Neonazi-Festival „Rock für Deutschland“ im thüringischen Gera wurden 250 T-Shirts mit dem Aufdruck „Hardcore Rebellen“ verteilt. Die Aufschrift hielt aber nur bis zum ersten Waschgang. Danach war der Satz zu lesen: „Was Dein T-Shirt kann, kannst Du auch. Wir helfen Dir, Dich vom Rechtsextremismus zu lösen.“ Diese Aktion fand damals ein weltweites Echo, von New York bis Tokio.
Das Konzert-T-Shirt, bevor und nachdem es gewaschen wurde. Foto: Exit-Deutschland
Wie die Wunsiedel-Aktion entstand
Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Ben: Man kann Neonazi-Demonstrationen blockieren oder Gegenkundgebungen organisieren. Unser Antrieb aber war, aus etwas Schlechtem etwas Gutes zu machen. Und wenn Neonazis auf die Straße gehen: Warum sie nicht für etwas Gutes marschieren lassen? Also überlegten wir uns, gemeinsam mit den Kollegen vom Berliner Zentrum für Demokratische Kultur (ZDK) jeden ihrer Schritte mit einer Spende zu honorieren.
Auf diese Weise kamen bisher knapp 15.000 Euro zusammen. Hätten die Rechtsradikalen nicht einfach ihren Aufmarsch absagen können?
Tom: Vielleicht, aber sie hatten ja keine Ahnung, was wir planten. Sie liefen bereits 300 Meter, und erst dann kamen wir mit unseren Transparenten und Akteuren ins Spiel. Die Neonazis waren so in einer Zwickmühle: entweder aufhören und somit nicht zu demonstrieren. Oder eben weiterzulaufen und Spenden zu sammeln. Das haben sie dann getan.
Sie haben sich mit Ihrer Aktion ziemlich lustig gemacht über die Neonazis. Keine Angst, dass Sie ein echtes Problem damit banalisieren?
Ben: Klar ging diese Aktion auf ihre Kosten. Aber wir wollten zeigen, dass man sich mit Neonazis auch anders auseinander setzen kann. Nicht mit Gewalt und Aggression, sondern friedlich und sehr kreativ. Auch lang etablierte Probleme können neu gedacht werden. Und Humor ist da eine gute Waffe, das wissen wir nicht nur, seit Charlie Chaplin den grossen Diktator imitiert hat.
Ihre Aktion wurde schließlich zu einem Internet-Hit…
Tom: …mit bisher über zwei Millionen Klicks bei Youtube, weltweit. Und immer noch stündlich zehntausend Aufrufen. Bereits Stunden nach dem Aufmarsch hatten wir einen Film im Netz, 80.000 Leute verfolgten den Aufmarsch mehr oder minder „live“ auf der von uns erstellten Website. Eine ungeheure Mobilisierung, obwohl wirklich kaum jemand eingeweiht war. Das hat uns schon überrascht: Wir hatten in Wunsiedel vielleicht eine Stunde Zeit, die Aktion zu starten, damit die Gegenseite nichts mitbekommt.
Ben: Es gibt sogar Fachleute, die sagen, wir hätten mit dieser Idee das Fundraising revolutioniert.
Das klingt so, als würden Sie weitermachen wollen?
Tom: Wir überlegen gerade, wie wir unsere Erfahrung möglichst vielen Initiativen und Institutionen zur Verfügung stellen. Ein paar Vereine haben sich bereits bei uns gemeldet, in anderen Städten sind gerade ähnliche Aktionen in Vorbereitung. Und vorigen Samstag wurden im rheinischen Meerbusch und in Weissenfels in Sachsen-Anhalt nach unserem Vorbild während einer Nazi-Demo Gelder gesammelt, diesmal für Flüchtlinge.
„Hass hilft“ auch im Internet, besonders Facebook ist voll mit rassistischen und fremdenfeindlichen Kommentaren. Und so funktionierts:
1. Jemand postet einen Hass-Kommentar auf Facebook.
2. Einer der Partner antwortet mit einem von Exit bereitgestellten „Hass hilft“-Post.
3. Dadurch wird dieser Hass-Kommentar gezählt und unfreiwillig zur 1 Euro Spende.
Grafik: EXIT-Deutschland
Das ist Exit-Deutschland
Er fühlte sich mächtig, als Chef der „Wehrsportgruppe Racheakt“. Als Mitbegründer des „Bundes Arischer Kämpfer“. Als gefürchteter Schläger im sächsischen Torgau, wo er mit seinen Leuten Hochzeiten aufmischte, eine Dönerbude anzündete und am Ende sogar eine Bank überfiel.
Manuel Bauer, heute 35, genoss es, in jungen Jahren Angst und Schrecken zu verbreiten. Jetzt sitzt er in einem Berliner Büro und erzählt aus einem kaputten Leben: „Früher dachte ich, ich sei ein Held. Heute muss ich sagen: Ich war ein Arschloch.“
Manuel Bauer ist einer von mittlerweile 550 Männer und Frauen, die in den vergangenen Jahren mit Hilfe der Berliner Organisation Exit aus der Neonazi-Szene ausgestiegen sind. Und er ist einer von 20 Aussteigern, die durch die Republik reisen und Vorträge halten, auch in Schulen.
Die Initiative Exit wurde 2000 vom früheren Neonazi-Führer Ingo Hasselbach und dem Berliner Kriminalisten Dr. Bernd Wagner gegründet. Mit Hilfe von Spendengeldern aus der „Stern“-Kampagne „Mut gegen rechte Gewalt“ und tatkräftiger Unterstützung durch Wirtschaftsunternehmen, Künstlern wie Udo Lindenberg und Peter Maffay und der Berliner Amadeu Antonio Stiftung. Kriminologe Bernd Wagner hatte sich dieses Projekt ausgedacht, um abseits von Appellen und wohlgemeinten Ratschlägen Rechtsradikalen eine echte Alternative zu bieten. Lebenshilfe statt platter Parolen. Und eine oftmals schmerzende Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie.
Raus aus der Szene
Manuel Bauer, verurteilt zu fast drei Jahren Haft, hörte im Gefängnis von dem Projekt. Zuerst dachte er, „meldest dich mal, tust interessiert, vielleicht lassen sie dich dann früher laufen“. Aber als er von Kameraden verprügelt wurde, nachdem er angedeutet hatte, vielleicht auszusteigen, und ihm zwei Türken zu Hilfe gekommen waren, geriet sein Weltbild ins Wanken. Die vermeintlichen Feinde standen ihm bei, die vermeintlichen Freunde ließen ihn fallen.
Wenn Sie selbst einen Spendenlauf organisieren möchten, erfahren Sie auf rechtsgegenrechts.de, wie das geht.
Exit ist auf Unterstützung angewiesen, Spenden gehen an: ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH,
Stichwort: Spende EXIT-Deutschland,
IBAN: DE47 1008 0000 0906 4527 00,
BIC: DRESDEFF100
Ein Exit-Mann besuchte ihn, zaghaft die Annäherung. Er interessierte sich mehr für Bauers Lebenslauf als für seine Ideologie. Für den Menschen, nicht den Neonazi. Bauer fasste langsam Vertrauen, die Gespräche wurden intensiv und rissen Wunden auf. Aber sie waren der einzige Weg, wieder zu sich und mit sich ins Reine zu kommen. Ohne zu verharmlosen, was geschehen war. „Ich habe viel gutzumachen“, sagt Manuel Bauer. Er hat seine Erfahrungen in dem Buch „Unter Staatsfeinden“ aufgeschrieben und hält heute Vorträge in Schulklassen. Einer von 20 Ex-Neonazis, die sich nun für Exit in der „Konterpropaganda“ engagieren, wie es der ehemalige Staatschützer Bernd Wagner in feinstem Behördendeutsch ausdrückt.
Rein in die neue Identität
487 Aussteiger hat die Organisation durch Arbeit oder Ausbildung in die Gesellschaft reintegriert – teils mit neuer Identität, um sie vor Racheakten zu schützen -, seit sich der einstige Kriminalpolizist Bernd Wagner und der Ex-Neonazi-Führer Ingo Hasselbach vor 13 Jahren verbündeten. Nur zehn wurden rückfällig, teils unpolitisch kriminell. „Das Gros der Aussteiger“, sagt er, „kommt aus dem militanten Teil der Szene. Das waren Terroristen, Kameradschaftsführer, Offizierskorps sozusagen. Wir haben Leute erlebt, die haben schon an Bomben gebastelt. Viele saßen in Haft“.
Ihr Gewaltpotential hatte Ex-Polizist Bernd Wagner bereits zu DDR-Zeiten erkannt. Gerade hat er in seiner Doktorarbeit über „Rechtsradikalismus in der Spät-DDR“ dargelegt, wie sich Neonazis im Osten organisierten und nach der Wende mit den Kadern aus dem Westen verbündeten. Nach der Wiedervereinigung wurde er unter Innenminister Peter-Michael Diestel Leiter der Kripo-Abteilung für Extremismus und Terrorismus, nach der Wiedervereinigung Chef der Abteilung Staatsschutz im Gemeinsamen Landeskriminalamt der fünf neuen ostdeutschen Bundesländer.
Aber die praktische Arbeit mit Menschen interessierte ihn mehr, und so gründete er nach dem Vorbild des schwedischen Ex-Neonazi Kent Lindahl sein eigenes Projekt. Lindahl, in jungen Jahren fanatischer Skinhead, hatte mit Hilfe seiner Freundin den Weg aus der Gewalt gefunden. Sein deutscher Kollege Wagner berät heute auch Aussteiger aus dem NSU-Umfeld. Ein Job, für beide Seiten gefährlich. „Wer seine Kameraden verlässt“, sagt Wagner, „dem drohen Prügel und Überfälle“. So hilft er Aussteigern auch bei der Organisation einer neuen Identität.
Unter Extremismuskennern gilt Exit längst als Vorzeigeprojekt. Und in der rechtsradikalen Szene ist Wagners Initiative verhasst wie keine andere. Immer wieder gelingt es ihm, führende Neonazi-Kader auf die andere Seite zu ziehen.
Der Text basiert auf drei Texten, die 2014 im „Stern“ erschienen sind.
2021 wurden 69 Personen (darunter 14 Frauen zum Teil mit Kindern) für die Ausstiegsbegleitung von Exit aufgenommen. Aktuell (Februar 2022) unterstützt Exit damit 89 Personen. Seit Beginn ihrer Arbeit im Jahr 2000 hat die Organisation insgesamt 884 Menschen beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene begleitet.
Linktipps
- Ausstieg? Was bedeutet das? Der schnelle Überblick
- Berichte von Ausgestiegenen im Exit-Journal
- Audio-Podcast Exit-Deutschland: In sieben Folgen erzählen fünf Männer und zwei Frauen von ihrem Ein- und Ausstieg, von Gründen und Zweifeln, von der Entscheidung bis zum Bruch, von ihrem Leben nach dem Ausstieg und der Entfernung von Szenetattoos. Weitere sechs Extra-Folgen geben einen tieferen Einblick in die Arbeit von Exit und die Podcastsprecher (Felix Lobrecht, Patrick Salmen, Julia Gamez Martin, Steffen Schroeder, Felix Römer, Ariana Baborie und Kai Lüftner). Bis Jahresende 2021 erreichte der Podcast mehr als 62.000 Menschen in 48 Ländern.
Uli Hauser –
arbeitet seit 1992 als Reporter für den „Stern“ und ist Autor mehrerer Bücher. Er rief bereits diverse zivilgesellschaftliche Projekte ins Leben, ist beispielsweise Mitbegründer des Neonazi-Aussteiger-Programms Exit und initiierte die „Stern“-Kampagne „Mut gegen rechte Gewalt“. Vom Bundesinnenministerium wurde er für sein Engagement mit dem Titel eines Demokratie-Botschafters ausgezeichnet.