Foto: Nicola Schwarzmaier

14. April 2022
Lesedauer 4 Minuten

Ein Verkehrsübungsplatz im Südwesten Berlins. Siba Al-abou (27, aus der Nähe von Aleppo) steigt auf ein 24-Zoll-Fahrrad und fährt wackelig los. Der Sattel ist viel zu niedrig, ihre Knie stoßen an ihre Arme. „Die wollen immer den Sattel ganz unten haben, dann fühlen sie sich sicherer“, sagt Annette Krüger, Initiatorin des Projektes #Bikeygees. Fünf Minuten später lässt Siba sich überreden und stellt den Sattel höher. Gleich fährt sie viel sicherer ihre Runden und ruft über die Schulter: „Vor zwei Wochen konnte ich noch gar nicht fahren!“.

Große Gruppe von Frauen mit Rädern bei einem Treffen der Bikeygees im Park
Foto: #Bikeygees e. V.

Der #Bikeygees e. V.

Die #Bikeygees bringen Frauen und Mädchen ab 16 Jahren nicht nur das Fahrradfahren bei, sondern bieten neben Fahrradtrainings auch mehrsprachigen Verkehrsunterricht und Radreparatur-Grundlagen an. Kurse gibt es aktuell in Berlin und Brandenburg.

Seit seiner Gründung 2015 bis heute hat der Verein 1251 Frauen und Mädchen aufs Rad gebracht und 486 Fahrrad-Sets aus Spenden (Fahrrad, Helm, Schloss und helles Licht) an die Absolventinnen überreicht.

Das Projekt freut sich über Fahrradspenden, helfende Frauen und Geldspenden. Alle Infos auf bikeygees.org.

Eine halbe Stunde zuvor steht sie mit ihrer Freundin Nora Al-zayed (26, aus Damaskus) am Auto von Annette und erhält ihr erstes eigenes Fahrrad. Mit dabei ist Anne Seebach, die gemeinsam mit Annette die #Bikeygees 2015 gegründet hat. Die beiden Frauen statten Siba mit allem aus, was eine ordentliche Radfahrerin braucht: Fahrradschloss und Helm, Signalweste und Fahrradtasche. Sie helfen ihr, den Helm über das Kopftuch zu setzen. Außerdem bekommt sie ein Besitzzertifikat, welches ihr Fahrrad als nicht gestohlen ausweist.

Seit nun schon sieben Jahren engagieren sich Annette Krüger und Anne Seebach, indem sie Frauen ab 16 Jahren das Fahrradfahren beibringen. Viele von ihnen saßen noch nie auf einem Rad. „Radfahren hat viel mit Körperspannung zu tun, die fehlt leider oft“, sagt Annette. „Der Alltag in den Notunterkünften (NUKs) ist oft trist, besonders am Wochenende. Da gibt es keine Sprachkurse und die Frauen sitzen nur rum“, ergänzt Anne. Außerdem würden Frauen weit weniger auf sich aufmerksam machen. Während die Männer irgendwann randalierten, wenn sie keine Beschäftigung hätten, zögen sich die Frauen zurück, würden lethargisch und depressiv. Umso wichtiger sei es, sie vor Ort anzusprechen und zu den zweiwöchig stattfindenden Übungsveranstaltungen einzuladen.

Ihr Motto: „Wir helfen, Grenzen abzubauen: Herkunft, Religion, Status sind unwichtig. Jede Frau auf der Welt sollte Radfahren können. Und dürfen.“

Etwa 1251 Frauen haben die #Bikeygees bis heute schon das Fahrradfahren beigebracht, 486 von ihnen sogar mit eigenen Rädern ausgestattet. Das geht nur, weil sie über ein großes Helferinnen-Netzwerk verfügen. Denn pro Übungseinheit mit etwa 15-20 Frauen müssen doppelt so viele Helferinnen vor Ort sein. Gerade ältere Frauen, die zum ersten Mal auf ein Fahrrad steigen, brauchen einen Ring von helfenden Frauen um sich herum, die sie stützen und ihnen Sicherheit geben. „Neben der Körperarbeit ist es eine Vertrauenssache. Das Tolle ist: Die Frauen haben hinterher richtige Glücksgefühle, weil sie hier etwas Neues entdecken. Sie haben viel verloren in der Vergangenheit, das Radfahren ist etwas Neues, was sie hier gewinnen können“, erklärt Annette.

Hilfe beim Aufsetzen des Fahrradhelms
„Die wollen nur die pinken Helme …“, so Annette Krüger. Foto: Nicola Schwarzmaier

In ihrer Heimat in der Nähe von Aleppo hat Siba als Microsoft Office-Lehrerin gearbeitet, weshalb sie auch gut Englisch spricht. In Syrien ist sie hauptsächlich zu Fuß gelaufen oder mit dem Minibus gefahren, Fahrradfahren war den Männern vorbehalten. Umso wichtiger ist es ihr, hier in Berlin eigenständige Mobilität zu gewinnen.

„Ich wollte etwas Neues lernen. Das Fahrradfahren gibt mir Freiheit“, erzählt sie. Siba ist seit September in Berlin und wohnt mittlerweile bei einer Familie in Pankow. Täglich hilft sie am Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) dem Verein „Moabit hilft“. Als sie ihr erstes Foto auf dem Fahrrad bei Facebook postete, bekam sie schräge Kommentare von männlichen Freunden. „Eine Frau mit Kopftuch solle nicht Fahrrad fahren, sagten sie. Ich habe gesagt: Was ist dein Problem? Es ist nur in deinem Kopf!“

Auch Schraubkurse gehören dazu

Die ehrenamtlichen Unterstützerinnen von #Bikeygees wollen künftig noch viel mehr Frauen mit eigenen Rädern versorgen. Wichtig ist ihnen auch, dass die Mädchen und Frauen selbst lernen, Fahrräder zu reparieren. Deshalb gibt es auch regelmäßig Schraubkurse. Die Fahrräder selbst werden meist gespendet und von freiwilligen Helfern fit gemacht. Besonders viel Unterstützung bekommen sie vom Fahrradladen „Antrieb“, der immer wieder unentgeltlich Räder repariert.

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Mit großem Vergnügen und viel Engagement: Anne Seebach, Siba Al-abou und Annette Krüger (v.l.).
Foto: Nicola Schwarzmaier

Coronabedingt mussten manche Trainings, wie beispielsweise das monatliche offene Training in Kreuzberg, zwar pausieren. Aber in Brandenburg waren und sind die #Bikeygees an zwölf Orten weiter aktiv, mit unterschiedlichen Modellen: Mal der mehrteilige in sich geschlossene Zyklus, die 14-tägige Trainingseinheit oder  fortlaufende wöchentliche Trainings. Dabei wurde nebenbei mit viel Einfallsreichtum das Modell des kontaktlosen Radunterrichts entwickelt, bei dem sozusagen „aufs Fahrrad gequatscht“ wird.

Siba freut sich darauf, endlich vom Übungsplatz runter- und auf die echten Straßen raufzukommen. „Ihr habt hier in Deutschland extra Straßen für die Radfahrer, das finde ich toll!“

Der Text erschien ursprünglich im Juni 2016 in der „taz“, er wurde aktualisiert und leicht bearbeitet.

Nicola Schwarzmaier –
volontierte beim Privatfernsehen, studierte Sprachen und Kulturjournalismus in Köln, Berlin und auf La Réunion und arbeitete von 2012 bis 2020 bei der Tageszeitung „taz“. Seit 2021 arbeitet sie für den WWF und ist für den redaktionellen Bereich der Webseite verantwortlich. Eine ausgewogene Berichterstattung ohne Diskriminierung, Klassismus, Chauvinismus und jegliche andere -ismen ist ihr sehr wichtig.