Singapur. Foto: Stephen Bowler, flickr, CC BY 2.0

23. August 2023
Lesedauer 5 Minuten

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Thema Verkehrswende

Der Transport von Menschen und Gütern erleichtert das Leben, ist aber vielerorts längst noch keine Selbstverständlichkeit. In ländlichen Regionen kommt man oft kaum weg vom Fleck – nicht nur, aber vor allem im globalen Süden. In den weltweit schnell wachsenden Städten dagegen breitet sich der Autoverkehr noch immer weiter aus. Gleichzeitig bedroht das Auto den menschlichen Lebensraum – weil es Abgase und Lärm verursacht, zur Erderwärmung beiträgt und öffentlichen Raum beansprucht.

Wie können wir ihn den Menschen zurückgeben? Wie lässt sich der Lieferverkehr neu organisieren? Was bringt eine Automatisierung des Verkehrs? Und welche Rolle spielen dabei Schiene, Rufbusse und Fahrräder?

In dieser Artikelreihe beschäftigt sich Fritz Vorholz mit sechs Vorschlägen für eine nachhaltige Verkehrswende.

Seit Beginn der Industrialisierung zieht es Menschen in Städte. Viele fanden dort Arbeit, wohnten aber in erbärmlichen Behausungen, atmeten Industrieluft, bekamen Grün kaum zu sehen. Einflussreiche Stadtplaner und Architekten steuerten dagegen, mit der 1933 aufgelegten „Charta von Athen“. Ihre Idee: Wohnen, Arbeiten und Freizeit räumlich trennen. Um die Funktionsbereiche zu verbinden, entstand das Konzept der autogerechten Stadt – mit Verkehrsachsen bis hin zu Autobahnen. Die Folgen: Abgase, Lärm – und die Beanspruchung von immer mehr öffentlichem Raum durch Autos.

70 %

der weltweit emittierten Treibhausgase stammen schon heute aus Städten, …

davon

von Verkehrsmitteln, die heute nahezu ausschließlich von Motoren angetrieben werden, in denen fossile Energieträger verbrennen.

Quelle: OECD

Höchste Zeit also gegenzusteuern: 2020 einigten sich die für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Minister der EU auf die „Neue Leipzig-Charta“. Darin heißt es, städtische Mobilitätssysteme sollten „multimodal“ sein, mehr Menschen öffentliche Verkehrsmittel nutzen, zu Fuß gehen oder Rad fahren. „Stadt der kurzen Wege“ heißt fortan die Devise.

Die „15-Minuten-Stadt“

Einige Städte machen bereits Ernst damit: Darunter Portland und Houston in den USA, Bogotá in Kolumbien, Melbourne in Australien, Shanghai in China sowie die europäischen Metropolen Barcelona und Paris. Es hat sich dafür der Begriff 15-Minuten-Stadt eingebürgert: Bewohnerinnen und Bewohner sollen innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad die wichtigsten Anlaufstellen des Alltags erreichen können. Nicht alles, aber vieles soll praktisch „ums Eck“ sein.

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Video: What is a ’15-minute city‘ and how will it change how we live, work and socialise?, 2021, engl. (2 Min., via yewtu.be)

Aber natürlich ruft der Schritt von der auto- zur menschengerechten Stadt Widerstände hervor. „Das Automobil ist wichtig als Bestandteil gesellschaftlicher Teilhabe“, sagt der Verkehrspsychologe Wolfgang Fastenmeier. Daher die Verlustangst.

Trotzdem belegten bei einer (nicht repräsentativen) Befragung, bei der nach Beispielen guter Verkehrspolitik in europäischen Städten gefragt wurde, Kopenhagen, Wien und Zürich jeweils einen der ersten zehn Plätze. Und das, obwohl restriktives Parkraummanagement in allen drei Großstädten breite Anwendung findet, die städtische Verkehrspolitik dem ÖPNV und dem Fahrradverkehr Vorrang vor dem Individualverkehr einräumt.

Ohne Ausbau des ÖPNV keine Akzeptanz für autofreie Zonen

Im südkoreanischen Suwon stieg 2013 das erste EcoMobility World Festival: In einem Bezirk der Millionenstadt wurden einen Monat lang Verbrennungsmotoren von den Straßen verbannt. Anfänglich war der Widerstand groß. Doch dann sahen die Menschen auch die Vorteile: Gehwege wurden verbreitert, Blumenbeete wurden angelegt, es wurden Straßenlaternen errichtet und Spielmöglichkeiten für Kinder geschaffen. Shuttlebusse fuhren im 15-Minuten-Takt. Der Lärmpegel sank, die Lebensqualität stieg.

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Video: EcoMobility World Festival documentary film, 2013, engl. (5:40 Min., via yewtu.be)

Obwohl das Projekt als großer Erfolg gilt, scheiterte 2015 in Berlin die Umsetzung eines Parallelvorhabens. Es fehlte Akzeptanz. „Der autofreie Monat wurde nicht als Chance, sondern als Bedrohung gesehen“, heißt es in einer Broschüre des Umweltbundesamtes. Die Lehre daraus: Es ist schwierig, Stadtbewohnern etwas zu nehmen, ohne sie „mitzunehmen“ – ohne ihnen persönliche Vorteile in Aussicht zu stellen: bessere Rad- und Fußgängerwege, kürzere Takte im ÖPNV, mehr Ruhe, mehr Sicherheit.

Grüne und blaue Infrastrukturen gegen die Überhitzung der Städte

Der städtische Verkehr trägt nicht nur maßgeblich zum Klimawandel bei, Städte sind auch von seinen Folgen besonders betroffen. Starkregen und Hitzewellen sind die Bedrohungen. Regenwasser kann auf Dächern, Straßen und Plätzen nicht versickern und fließt stattdessen in die Kanalisation, die bei Starkregen schnell überfordert ist; das Ergebnis sind überflutete Straßen und vollgelaufene Keller.

Obendrein macht der Temperaturanstieg Städte zu Wärmeinseln, im Vergleich zu umliegenden Regionen kann die „Überwärmung“ bei sechs bis acht Grad liegen. Ein Grund dafür: Gebäude und Straßen nehmen die Sonnenstrahlen auf, speichern die Energie und geben die Wärme wieder ab. Linderung versprechen grüne und blaue Infrastrukturen: Baum- und Buschpflanzungen, dazu Teiche, Seen, Kanäle. Den Platz für all das gewinnen Stadtplaner vor allem durch die Umnutzung von Straßenverkehrsfläche.

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Video: Hitze-Aktionspläne: So wollen Städte der Hitze trotzen, 2022. (2:50 Min., via yewtu.be)

Eine Schlüsselrolle in Metropolregionen kommt in jedem Fall einem leistungsfähigen öffentlichen Personennahverkehr zu. Den allerdings muss man nicht nur wollen, sondern sich auch leisten können. In Deutschland beispielsweise decken die Einnahmen des ÖPNV nur rund 75 Prozent der Kosten. Gewinne lassen sich ohnehin nicht erzielen, oder nur auf Kosten von Zuverlässigkeit, Taktung und Sicherheit. Ohne staatlich gelenkte Zuschüsse wird ein leistungsstarker ÖPNV nicht zu betreiben sein, so das Fazit einer weltweiten Studie der britischen University of Greenwich.

Wie der ÖPNV finanziert werden kann

Doch wie sollen Städte ihre ÖPNV-Töpfe füllen? Da gibt es einige Ideen: London beispielsweise investiert Einnahmen aus der 2003 eingeführten Pkw-City-Maut in den ÖPNV; mittlerweile ergänzen zusätzliche Emissionsabgaben die Einnahmen. Bußgelder, Parkgebühren, Kfz- und Mineralölsteuern oder auch CO2-Abgaben lassen sich ebenfalls als Quellen zur ÖPNV-Finanzierung nutzen. Städte wie Mumbai, New York, Osaka und Barcelona beteiligen Immobilienbesitzer und Grundstückseigentümer an den Kosten.

In Brasilien muss jeder Arbeitgeber mit mehr als zehn Mitarbeitern einen Pro-Kopf-Obolus in einen ÖPNV-Topf einzahlen. Dieses Modell folgt einer Empfehlung der Weltbank. Sie lautet: „Wer profitiert, muss zahlen.“ Das gilt sowohl für Fahrgäste, die dies mit ihren Ticketpreisen tun, als auch für indirekte Nutznießer wie Geschäfte, Veranstalter oder eben auch Arbeitgeber. Da der Staat durch den gesellschaftlichen Nutzen eines funktionierenden ÖPNV ebenfalls profitiert, ist ein Beitrag aus der Steuerkasse ebenso gerechtfertigt.

Herausforderung: Geschlechtergerechtigkeit

Frauen sind in Städten anders unterwegs als Männer. Männer fahren in der Regel morgens zur Arbeit und abends wieder zurück. Die Wegeketten von Frauen sind komplexer. Sie erledigen auf dem Arbeitsweg Einkäufe, bringen Kinder zur ­Schule oder Angehörige zu Ärzten. Sie gehen öfter zu Fuß und nutzen öffentliche Verkehrs­mittel häufiger als Männer. Das geht aus einer international vergleichenden Untersuchung des dänischen Beratungsunternehmens Ramboll hervor. Doch bei der Planung der aktuellen Verkehrsinfrastruktur hatte die „Ernährer­mobilität“ Vorrang, also der Arbeitsweg der Männer. Und damit auch die Straße.

Aber nicht nur der Mangel an passenden Mobilitätsangeboten schränkt die Bewegungsmöglichkeiten von Frauen und damit ihre gesellschaftliche Teilhabe ein. Auch das Thema Sicherheit spielt eine Rolle. Sowohl beim Zufußgehen als auch bei der Nutzung von Bussen und Bahnen fürchten Frauen Übergriffe, vor allem nachts haben sie Angst vor sexueller Belästigung und vor Überfällen. In Lateinamerika sind sechs von zehn Frauen bereits physisch attackiert worden. Auch in Deutschland fühlt sich laut einer Studie des Bundeskriminalamtes nur etwa jede dritte Frau nachts im öffentlichen Nahverkehr sicher; mehr als jede zweite Frau meidet deshalb nachts Busse und Bahnen.

Statt SUV lieber elektrifiziertes Zwei- oder Dreirad

Natürlich wird auch der motorisierte Individualverkehr in der urbanen Mobilität der Zukunft seinen Platz haben. Angesichts des Klimawandels aber nur, wenn private Autos weder Schadstoffe noch Treibhausgase emittieren, genauso wie Sharingfahrzeuge, Busse und Lieferwagen. Dass der weltweite Absatz von E-Autos im Jahr 2022 um 55 Prozent gestiegen ist, stimmt optimistisch. Aber auch E-Autos sind kein Allheilmittel. Das Klima schonen sie nur, wenn ihre Batterien mit Ökostrom geladen werden. Und auch sie verstopfen die Straßen, beanspruchen Platz beim Parken.

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Elektro-Rikschas, die 2012 in Neu-Delhi eingeführt wurden, um die Umweltverschmutzung zu bekämpfen, sind für die Anbindung der letzten Meile von entscheidender Bedeutung geworden. Sie machen derzeit 83 Prozent des gesamten Elektrofahrzeugmarktes in Indien aus. Foto: 2022/International Monetary Fund/Saumya Khandelwal, 2022 Neu-Delhi, CC BY-NC-ND 2.0, flickr

Die Elektromobilität nimmt auch in vielen Ländern und Metropolen des Südens Fahrt auf – allerdings eher auf zwei oder drei Rädern. Mopeds, Motorräder und dreirädrige Tuk Tuks haben bei der wirtschaftlichen Entwicklung vieler asiatischer Ballungsräume eine wichtige Rolle gespielt. Traditionell sind sie mit Verbrennungsmotoren ausgestattet, doch seit einiger Zeit sind auch elektrische Varianten verfügbar. In Indien stieg im Jahr 2022 die Zahl der neu zugelassenen Elektro-Threewheeler auf 425.000, die elektrischen Varianten verkaufen sich inzwischen besser als solche mit Verbrennungsmotor. Der afrikanische Markt für solche Billiggefährte ist ebenfalls groß. Die Zukunft ist elektrisch.

Der Text erschien zuerst in „tomorrow“, dem Technologiemagazin von Schaeffler Technologies AG & Co. KG, und wurde für bachrauf.org aktualisiert/modifiziert.

Dr. Fritz Vorholz –
studierte in Köln Volkswirtschaft und Soziologie. Nach dem Studium arbeitete er für den Sachverständigenrat für Umweltfragen und von 1988 bis 2015 als Redakteur für die „Zeit“. Von 2016 bis Anfang 2020 leitete er die Strategische Kommunikation von Agora Verkehrswende. Seit Frühjahr 2020 arbeitet er wieder als Journalist, freiberuflich.