Zwischen einem Handyshop und einem Gemüseladen liegt der Kiosk, der die Menschen gesünder machen soll, mitten in der Fußgängerzone des Hamburger Stadtteils Billstedt. Auf den Türen kleben Sticker in Sprechblasenform: „Möchten Sie gesünder leben?“
Im Inneren lädt eine gemütliche Sitzecke ein, eine freundliche Frau hinter einem Tresen hört sich die Anliegen der Passanten an und vermittelt bei Bedarf Beratungsgespräche, die in abgetrennten Räumen stattfinden. Eine ältere Dame lässt sich dort gerade ihren Blutdruck kontrollieren, ein übergewichtiger Teenager lässt sich erklären, wie er abnehmen kann.
Natürlich könnten die beiden auch zum Arzt gehen. Aber bis dort ein Termin frei ist, kann es dauern und gerade in sozial benachteiligten Wohnvierteln haben Ärzte aufgrund zu wenig niedergelassener Kolleginnen und Kollegen oft mit Zeitnot und Kapazitätsdefiziten zu kämpfen.
Um beispielsweise einem schwergewichtigen Teenager einen Ernährungsplan für eine Woche zu erarbeiten, braucht die Ernährungsberaterin fast eine Stunde – so viel Zeit könnte eine Hausärztin niemals aufbringen.
Aber gerade in Problemstadtteilen wie Billstedt ist der Bedarf an Aufklärung über Krankheitsprävention und Gesundheitsrisiken hoch. Die Lebenserwartung liegt in solchen Vierteln im Schnitt fünf Jahre niedriger als in wohlhabenderen Stadtteilen. Genau hier will der Kiosk ansetzen, denn das kostenlose Angebot wird gerade hier für ärmere und kranke Menschen besonders gebraucht.
Beraten wird auf Anfrage neben Deutsch auch auf Polnisch, Russisch, Arabisch, Dari/Farsi, Türkisch und Englisch
Im Gesundheitskiosk selbst arbeiten also keine Ärzte, dafür aber Ernährungsberater, Krankenpflegekräfte, Hebammen, Onkolotsinnen oder Psycholotsinnen. Sie nehmen den niedergelassenen Ärzten das ab, was diese nicht leisten können.
Umgekehrt schicken die Kioskmitarbeiter jene Menschen, die eine ärztliche Behandlung brauchen, an die richtige Adresse. So ist der Gesundheitskiosk mittlerweile zu einem wichtigen Knotenpunkt der Gesundheitsversorgung geworden, der tausende Menschen erreicht.
Seit seiner Gründung Anfang 2018 bis heute hat der Kiosk mehr als 15.000 Beratungsgespräche (je durchschnittlich 45 Minuten) durchgeführt und mittlerweile 4.500 eingeschriebene Klienten.
Praxen und Krankenhäuser sind froh über die Unterstützung, die der Kiosk mit seinem niedrigschwelligen Angebot leistet. Ob mit Termin oder ohne, niemand wird hier abgewiesen. Auch sprachlich wird versucht, Hürden nach Möglichkeit zu vermeiden, denn beraten wird auf Anfrage neben Deutsch auch auf Polnisch, Russisch, Arabisch, Dari/Farsi, Türkisch und Englisch.
Der Kiosk vernetzt soziale mit medizinischer Versorgung und hat die Gesundheitsversorgung der Menschen in den Stadtteilen Billstedt und Horn nachweislich verbessert
Und das Angebotsspektrum ist vielfältig: Es gibt „normale“ Beratungen zu Ernährung, Krankheitsprävention und chronischen Erkrankungen, aber beispielsweise auch regelmäßige Sprechstunden im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Und es gibt Gruppenangebote, die zwar während der Corona-Zeit ausgesetzt werden mussten, nun aber wieder zu laufen beginnen, wie etwa Rückenschule, Yoga für Mollige, Beckenbodengymnastik oder Autogenes Training.
Studie bestätigt Gesundheitskiosk gute Arbeit
Dass der Kiosk durch eine bessere Vernetzung von sozialer und medizinischer Versorgung die Gesundheitsversorgung der Menschen in den Stadtteilen Billstedt und Horn nachweislich verbessert hat, hat auch eine Studie der Universität Hamburg 2021 belegt.
Demnach konnte ein Rückgang der vermeidbaren Krankenhausfälle im Vergleich zu den anderen Stadtteilen Hamburgs um fast 19 Prozent festgestellt werden. Zeitgleich ist die Anzahl der Arztbesuche in Billstedt und Horn im Vergleich zu den wohlhabenderen Stadtteilen Hamburgs um durchschnittlich 1,9 Besuche pro Versichertem beziehungsweise Versicherter und Jahr gestiegen. Notaufnahmen seien entlastet und eine medizinische Unter- und Fehlversorgung der Menschen verringert worden.
Die Studie empfahl, das Konzept des Kiosk in die Regelversorgung zu überführen, woraufhin die Bundesregierung den Gesundheitskiosk für besonders benachteiligte großstädtische Regionen in ihr Regierungsprogramm aufgenommen hat.
Infolge der Pandemie, so Pressesprecher Klaus Balzer, sei die Zahl junger Familien, die das Angebot des Kiosk wahrnähmen, stark angewachsen. Dies sei vor allem auf drei Kinderärzte in Billstedt und Horn zurückzuführen, die die Angebote zur Ernährungsberatung und psychosozialer Begleitung des Kiosks immer mehr in Anspruch nähmen, da sich die Zahl adipöser Kinder und die psychischen Belastungen durch Corona bei Kindern dramatisch erhöht habe.
Momentan wird der Gesundheitskiosk von den fünf großen Krankenkassen AOK, Barmer, DAK, Mobil und Techniker finanziert. Aber durch eine aktuelle Empfehlung (Stand 17.2.2022) des Gemeinsamen Bundesausschuss der gesetzlichen Krankenkassen (G-BA), könnte das Modell Billstedt/Horn bald zur Regelversorgung aller gesetzlichen Kassen gehören.
Des weiteren laufen derzeit auch noch Verhandlungen mit der Gesundheitsbehörde in Hamburg, inwieweit auch die Stadt Hamburg in die Finanzierung einsteigt, um den Zugang zum Angebot des Kiosk auch Nichtversicherten offenzuhalten.
„Ein Gesundheitskiosk könnte in jeder Stadt, in jedem Stadtteil die Versorgung deutlich verbessern“, sagt der Gesundheitsökonom Alexander Fischer, der das Konzept zusammen mit Billstedter Ärzten erfunden hat. Denn der Kiosk bildet die Bevölkerung im Grunde darin aus, wie man gesund lebt.
Und es passiert bereits: Einige Städte vor allem im Ruhrgebiet sind schon dabei, Machbarkeitsanalysen zu erstellen. In Essen steht die Eröffnung eines weiteren Kiosk kurz bevor. Auch aus Österreich und den USA kamen bereits Delegationen, um das Projekt zu besuchen. Vielleicht stehen bald in Berlin, Wien und New York Gesundheitskioske nach Billstedter Vorbild.
Der Text erschien ursprünglich im September 2019 in der „Zeit“, er wurde aktualisiert und leicht bearbeitet.
Links zum Thema
- Zur Website des Gesundheitskiosk Hamburg
Dr. Christian Heinrich –
studierte Medizin in Mainz und Valencia. Nach seiner Promotion besuchte er u.a. die Deutsche Journalistenschule in München und arbeitet heute als freier Journalist, unter anderem für die „Zeit“, „GEO“ und die „Süddeutsche Zeitung“, er ist Lehrbeauftragter an der Uni Hamburg und der DJS in München. Mehr auf autorchristianheinrich.de