Foto: André Hofmeister, CC BY-NC 2.0, Foto: André Hofmeister, Flickr

7. Juni 2021
Lesedauer 7 Minuten

Waal, eine kleine Marktgemeinde im Allgäu, knapp 2500 Einwohner. Gegenüber, auf der anderen Seite des Marktplatzes steht das Schloss. Früher war das kleine Waal mal Gerichtssitz, erzählt Hartmut Gieringer. „Hier wurden die letzten Hexen im Allgäu verbrannt.“

Hartmut Gieringer leitet den Dorfladen in Waal
Hartmut Gieringer, ein Chef, der keinen Cent verdient, nicht einmal Rabatt im eigenen Laden bekommt, und trotzdem sagt: „Das macht richtig Spaß.“ Foto: Dominik Baur

Gieringer sitzt an einem Tisch mitten im Dorfladen, zwischen Kaffeeregal und Ostersortiment. Vor ihm das Schild „Samstags Stammtisch“. Zum Stammtisch kommt hier natürlich keiner. Wegen Corona, nicht weil es Vorbehalte gegen einen Stammtisch zwischen Einkaufsregalen gäbe. Wie es hier überhaupt wenig Vorbehalte gegen den Dorfladen gibt, eine der Errungenschaften aus der jüngeren Historie des Ortes.

Es ist ein schlicht, aber modern eingerichteter Laden – mit der einen oder anderen Retro-Anleihe. Das Sofa am Stammtisch macht ein bisschen auf Biedermeier, der Schrank, in dem die Eier stehen, auf Bauernschrank. 186 Quadratmeter Verkaufsfläche, im Vorraum stehen die Geldautomaten der Sparkasse, an der Wand hinter der Theke hängt ein Kruzifix.

Statt der Stammtischbrüder sitzt nun eben Hartmut Gieringer da und erzählt, wie das alles angefangen hat mit dem Laden. Gieringer, 68, Brille, die Frisur sympathisch ungestüm, ist hier der Chef. Ein Chef, der keinen Cent verdient, nicht einmal Rabatt im eigenen Laden bekommt, und trotzdem sagt: „Das macht richtig Spaß.“

Der Laden gehört 300 Familien

Bis 2012, erzählt Gieringer, habe es an derselben Stelle schon einen Laden gegeben. Doch als der zumachte, stand Waal ohne Laden da. Einkaufen ging nur noch mit dem Auto, der nächste Supermarkt war sechs Kilometer entfernt. Und die Busverbindungen – Gieringer winkt ab.

Ein Zustand, mit dem sich die Waaler aber nicht abfinden wollten – auch wenn er inzwischen fast zum Normalzustand auf dem bayerischen Land geworden ist. Wir brauchen wieder einen Laden, hieß es. Die Initiative ging zunächst vom Gemeinderat aus, dann übernahm eine Gruppe Ehrenamtlicher; Gieringer war einer von ihnen. Ein Pächter war nicht zu finden, also organisierte man sich genossenschaftlich. Rund 300 Familien zeichneten Anteile. Minimum: 200 Euro. Insgesamt kamen so 80.000 Euro zusammen. Dazu noch Fördergelder und Kredite. Ein ordentliches Startkapital. Anfang 2015 begann man mit der Planung, nach gut zwei Jahren war Eröffnung.

In den ersten beiden Jahren schrieb man noch Verlust, seit letztem Jahr läuft es gut. Zuletzt hat das Geschäft sogar von der Pandemie profitiert. „Wir gehören zu den Kriegsgewinnlern“, sagt Gieringer ganz offen. Während der Corona-Krise habe man deutlich zugelegt.

Gieringer ist gelernter Diplomkaufmann. Bis zur Rente hat er fast 40 Jahre bei BMW gearbeitet. Und jetzt ist er ehrenamtlich wieder voll im Einsatz. „Ich brauch’ ja ein Hobby“, sagt er, fast entschuldigend. Er kümmert sich um die Finanzen, im Laden selbst arbeiten sechs Angestellte.

Acht Millionen Deutsche sind unterversorgt

Waal ist nur eines der Beispiele, wo sich in den letzten Jahren eine Wiederauferstehung beobachten lässt: die des Tante-Emma-, Krämer- oder eben Dorfladens. Nach dem Krieg deckte man sich in den kleinen Lebensmittelgeschäften noch mit den Dingen des täglichen Bedarfs ein, in den Siebzigern wurden sie jedoch immer mehr von Supermärkten und Discountern verdrängt. Nicht, dass man es nicht beklagt hätte. Udo Jürgens dichtete damals eine Schlagerhommage an Tante Emma und behauptete: „Im endlos großen Supermarkt, da droht mir gleich ein Herzinfarkt.“

Und das ZDF widmete dem kleinen Ladenbesitzer Gustav Spannagl, dargestellt vom großen Walter Sedlmayr, und seinem verzweifelten Kampf gegen den neu eröffneten Supermarkt eine 13-teilige Vorabendserie. Beklagt haben die Leute das Ende von Tante Emma allerorten, eingekauft haben sie beim Supermarkt. Die Zahl der Lebensmittelgeschäfte in Deutschland sank seit 1970 von 160.000 auf 37.000. Acht Millionen Deutsche, heißt es, seien inzwischen unterversorgt, will heißen: Sie können kein Lebensmittelgeschäft mehr zu Fuß erreichen.

„Einen Moment, ich muss erst mal die Gitarre weglegen“, sagt Marius Kliesch. Am anderen Ende der Leitung hört man kurz den Hall aus dem Resonanzkörper des Instruments, dann ist Kliesch wieder da – und auch gleich im Thema. Für Tante-Emma-Läden habe er schon immer ein Faible gehabt, erzählt er. Allein dieser Geruch, wenn man den Laden betritt! „Diese Melange aus dem, was der Laden hergibt: Wurst, Seife, Gummibärchen, Waschmittel. Manchmal wird hinten in der Küche noch gekocht.“

Seine Leser kennen Kliesch besser unter dem Namen Tommie Goerz, dem Pseudonym, unter dem er fränkische Krimis schreibt. Zuletzt allerdings war Kliesch in Sachen Tante Emma unterwegs. Mit dem Fotografen Walther Appelt ist er von Laden zu Laden gezogen, hat sich in Franken die letzten ihrer Art angeschaut. Das Ergebnis haben sie nun in Buchform herausgebracht. „Tante Emma lebt“, heißt das Werk hoffnungsfroh, aber Kliesch weiß, dass den meisten der Läden, die er besucht hat, wohl keine allzu lange Zukunft beschieden ist. Die vielleicht letzte Chance also, ihnen noch einmal ein Denkmal zu setzen.

Tante Emma war ein Onkel

Es waren überwiegend nicht die modernen Dorfläden, sondern alte Familienbetriebe, die Kliesch aufspürte. Hier fand er den Flair, der ihm aus der Kindheit vertraut war. Manche der Geschäfte machten noch während Klieschs Recherche dicht. Von anderen bekam er Sprüche zu hören wie: „Die Jungen kaufm mit dem Auto ein, die kummer net zu mir, und die Altn brauchn immer wenicher und werrn ah immer wenicher.“

Marika Maischs Urgroßvater hat den Laden vor hundert Jahren eröffnet. Sie selbst wird die Letzte in der Familie sein, die ihn führt. Foto: Dominik Baur

Marika Maischs Laden in Fürth ist einer von denen, die Kliesch porträtiert hat. Das Amtsblatt von Fürth feiert ihn als den „Inbegriff des Tante-Emma-Ladens“. Zu Maisch kommen die Leute noch immer.

„Tante Emma seit 1920“ steht draußen auf der grünen Markise. 1920 hieß Tante Emma noch Georg Berger und verkaufte vornehmlich Kartoffeln. Berger war Marika Maischs Urgroßvater. „Der Laden war noch miniklein damals“, erzählt sie und zeigt in Richtung Tür. „Der war nur das Stückle da vorne. Und dann hat jede Generation ein bisschen dazu gebaut.“

Marika Maisch ist quasi im Laden aufgewachsen. „Es war eigentlich immer klar, dass ich das mal machen werd’.“ Bis vor zehn Jahren führte sie das Geschäft gemeinsam mit ihrem Vater, dann übernahm sie.

Fruchtaufstrich Prosecco/Traube

Wie groß ihr Sortiment ist? Maisch weiß es nicht. Hauptsache ist doch, dass sie alles hat. Ob Corn Flakes, Dosenravioli, Glühbirnen oder Katzenstreu, ob Bio-Kurkuma-Extrakt oder Maggi in der Literflasche – alles da. Die Preisschilder sind handgeschrieben. Und nachgefüllt, wird, wenn eine Lücke entsteht. „Ich steh’ hier, such’ die Löcher ab und schreib’ auf.“ Und dann fährt sie zum Großmarkt. Wer den „Maisch“ betritt, betritt eine analoge Welt.

Neben den Standards setzt Maisch vor allem auf fränkische Produkte: Bier, Wein, Wurst. Abends nach Ladenschluss stellt sie dann noch in die kleine Küche hinterm Laden und bereitet ihre eigenen Spezialitäten zu: Fruchtaufstrich mit Geschmacksrichtungen wie „Prosecco/Traube“, Eiersalat oder Schafskäse-Creme mit Rucola-Pesto.

"Generationenwechsel im Tante-Emma-Laden der Familie Maisch"
„Generationenwechsel im Tante-Emma-Laden der Familie Maisch“, lautet die Bildunterschrift eines Zeitungsartikels, den Marika Maisch aufgehoben hat. Links ist ihr Vater Gottfried Maisch zu sehen, der das Geschäft vor zehn Jahren an sie übergeben hat. Foto: Dominik Baur

So hält sich der Laden auch nach 100 Jahren noch. Am Mangel an Konkurrenz kann es nicht liegen. Der nächste Norma ist fünf Minuten entfernt, der nächste Rewe sechs Minuten.

„Aber ich find’s hier angenehmer“, sagt Andreas Müller. „So ein Supermarkt hat etwas Gehetztes, Gestresstes, Anonymes. Hier krieg’ ich alles, und gleichzeitig ist die Atmosphäre viel angenehmer.“ Müller kommt ein, zwei Mal die Woche, erledigt hier seinen gesamten Wocheneinkauf. „Und wenn ich mal kein Geld einstecken hab’, kann ich anschreiben lassen.“ Der 42-jährige Soziologe packt Sahne, Mozzarella und Feldsalat in seinen Rucksack, greift sich noch eine Flasche Wein. Was wäre, wenn es den kleinen Laden nicht mehr gäbe? „Gar nicht auszudenken“, ruft Müller, und es klingt nicht gespielt.

Impressionen, die mitunter aus der Zeit gefallen zu sein scheinen. Man sieht es ihr nicht an, aber die alte Glocke verkündet immer noch zuverlässig, wenn ein Kunde den Laden betritt. Links unten ein Bild aus den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Die schöne Holztür gibt es noch, sie ist im Lager hinter dem Haus verbaut. Foto: Dominik Baur

So wie Müller denken viele Kunden. Sie schätzen das Persönliche, das Familiäre, die Nähe. Zahlen auch gerne ein paar Cent mehr dafür. Wie kommt es dann, dass so viele Läden es doch nicht geschafft haben, in der schönen neuen Supermarkt-Welt zu überstehen? Sicher, Marika Maisch hat ein paar Vorteile: Das Haus, in dem sich der Laden befindet, gehört der Familie; sie hat eine gewachsene Kundschaft, die zum Teil seit Jahrzehnten hier einkauft; und sie hat begonnen, ihre Kunden auch zu beliefern. Schulen, Altenheime, Gastronomie. Inzwischen ist das fast ein zweites Standbein.

Die Nachfrage für Geschäfte wie ihres, glaubt Maisch, sei schon da. Nur: Es gebe niemanden mehr, der das machen will. „Es ist halt sehr viel Arbeit. Man muss das schon mögen.“ Ihre beiden Töchter beispielsweise mögen es nicht, haben ihr schon klar gemacht, dass sie den Laden nicht übernehmen wollen. So wird sich auch für den „Maisch“ wie für viele Familienbetriebe eines Tages die Frage stellen, wie es weitergeht. Marika Maisch ist erst 49 Jahre alt, denkt noch nicht ans Aufhören. „Vielleicht ergibt sich ja was“, sagt sie. Gedanken will sie sich darüber jetzt aber noch nicht machen.

Rund 200 neue Dorfläden

So wie Müller denken viele Kunden. Sie schätzen das Persönliche, das Familiäre, die Nähe. Zahlen auch gerne ein paar Cent mehr dafür. Wie kommt es dann, dass so viele Läden es doch nicht geschafft haben, in der schönen neuen Supermarkt-Welt zu überstehen?

Die Nachfrage für Geschäfte wie ihres, glaubt Maisch, sei schon da. Nur: Es gebe niemanden mehr, der das machen will. „Es ist halt sehr viel Arbeit. Man muss das schon mögen.“ Ihre beiden Töchter haben ihr schon klar gemacht, dass sie den Laden nicht übernehmen wollen.

Der Dorfladen on Waal
Hartmut Gieringer (r.) im Gespräch mit Unternehmensberater Wolfgang Gröll. Der Laden in Waal ist einer von rund 200 Neugründungen in Bayern, die Gröll schon begleitet hat. Foto: Dominik Baur

Die neuen Dorfläden haben es da etwas einfacher. Die genossenschaftliche Organisation bindet die Kundschaft noch stärker an „ihren“ Laden, die Supermarkt-Konkurrenz ist in der Regel weiter entfernt. In Waal steht ein Mann im Janker vor dem Nudelregal. Es ist Wolfgang Gröll. „Ich mach’ noch schnell ein paar Fotos“, sagt er, „die poste ich dann auf unserer Seite.“ Dinkel-Eier-Nudeln sind es, vom Lärchenhof aus der Region. Angebote wie dieses stehen für das, was den Laden ausmacht. Dass er in nur drei Jahren zur Erfolgsgeschichte wurde, hat aber auch mit Wolfgang Gröll zu tun, dem Vater von Bayerns Dorfladen-Boom. Rund 200 Gründungen hat der Unternehmensberater bereits begleitet – angesichts von insgesamt gut 2000 Gemeinden in Bayern durchaus beeindruckend.

Auch er meint: Die Nachfrage nach dem kleinen Lebensmittelgeschäft in unmittelbarer Nähe habe es die ganze Zeit über gegeben. Nur habe es lange gedauert, bis man – wieder – einen vernünftigen Weg gefunden hat, sie zu befriedigen. Und zu dem gehörten inzwischen eben oft auch bürgerschaftliches Engagement und die Unterstützung der Gemeinde. Aktuell betreut er rund 50 Läden in der Gründungsphase. Mit seiner kleinen Firma berät der 56-Jährige Gemeinden und Bürger, die einen Dorfladen auf die Beine stellen wollen. Wie groß ist der mögliche Umsatz, wie viel muss investiert werden, wie lässt sich die Finanzierung bewerkstelligen? Gröll rechnet den Menschen vor, wie ihr Unternehmen gelingen kann.

Und eines freut ihn ganz besonders: „Eigentlich sind ja wir die größten Kommunisten“, sagt er. „Weil der Genossenschaftsgedanke ist ja Kommunismus pur, wenn man ehrlich ist. Ausgerechnet wir in Bayern setzen auf Gemeinschaftseigentum. Und es funktioniert.“

Dieser Artikel ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der im März 2021 in der „taz“ erschienen ist.

Dominik Baur –
ist Bayern-Korrespondent der „taz“, schreibt aber als freier Journalist auch gern über Themen aus Umwelt und Gesellschaft. Mehr auf gschichten.de.