Audrey Tang. Foto: swissinfo.ch

„Audrey Tang, wie werden Soziale Medien sozial?“

Von Jonas Glatthard und Bruno Kaufmann
5. Dezember 2021
5. Dezember 2021
Lesedauer 5 Minuten

Schulabbrecherin, Hackerin, Ministerin: Das ist Audrey Tang. Als Digitalministerin soll sie Taiwan zur digitalen Vorzeigedemokratie machen. Spätestens seitdem der kleine Inselstaat die Pandemie so gut wie kaum ein anderes Land gemeistert hat, ist Tang in den internationalen Medien omnipräsent.

Sie arbeite nicht für die Regierung, sondern mit der Regierung, sagt sie in der „NZZ“. Sie steht keinem großen Ministerium mit Budget und Angestellten vor, sondern sieht sich als direktes Bindeglied zwischen der Regierung und Wählerinnen und Wähler, Aktivistinnen und Aktivisten.

China versteht den Staat mit 23 Millionen Einwohnern nach wie vor als Bestandteil des chinesischen Territoriums. Nur wenige Länder unterhalten offizielle diplomatische Beziehungen zu Taiwan. Unter diesem Druck wandelte sich Taiwan zu einer Vorzeigedemokratie. Eine wichtige Rolle spielen dabei innovative Formen der Online-Beteiligung.

Heutzutage werden die Sozialen Medien nicht mehr so sehr als Gewinn für die Demokratie angesehen. Wir sprechen viel mehr über die Probleme wie Hassrede oder Fake News. Wie ist Ihre Perspektive aus Taiwan, sehen Sie die gleiche Art von Pessimismus?

Audrey Tang: Ich denke nicht oft in den Kategorien von Optimismus und Pessimismus. Ich denke in den Kategorien einer prosozialen, zivilgesellschaftlichen Infrastruktur im Gegensatz zu einer antisozialen, eher privatwirtschaftlichen Infrastruktur.

Soziale Medien, antisozial oder prosozial, können sozial bleiben. Genauso wie wir Treffpunkte von Menschen haben, die in einem Rathaus, in einer öffentlichen Debatte in einem Park, in einem akademischen Umfeld strukturiert über Politik sprechen. Das sind öffentliche Infrastrukturen.

Man kann über Politik auch in einer lauten Bar sprechen, in einem Nachtclub, wo die Leute schreien müssen, um gehört zu werden, mit süchtig machenden Getränken, privaten Türstehern und so weiter. Das ist auch ein Gespräch über Politik, aber vielleicht nicht unbedingt ein prosoziales.

Audrey Tang im MediaLab-Prado, 2016
Foto: Álvaro Minguito/LM, Flickr, CC BY-SA 2.0
„Wir können die digitalen Räume selbst programmieren, wenn ein Kommunikationsbedürfnis entsteht. Wir passen uns nicht an die eher unsoziale Seite der Sozialen Medien an. Wir können die Interaktion so gestalten, wie es die Teilnehmenden wollen.“

Wie bei diesen physischen Räumen haben wir auch im digitalen Raum unterschiedliche Konfigurationen der sozialen Interaktion. In Taiwan hat die Sonnenblumen-Bewegung unsere eigene Kommunikationsinfrastruktur geschaffen, in einer Art und Weise, die oft als „situational application“ bezeichnet wird.

So können wir die digitalen Räume selbst programmieren, wenn ein Kommunikationsbedürfnis entsteht. Wir passen uns nicht an die eher unsoziale Seite der Sozialen Medien an. Wir können die Interaktion so gestalten, wie es die Teilnehmenden wollen. Das ist hier in Taiwan schon eine ganze Weile der Fall, seit 25 Jahren.

Wenn wir bei diesem Bild des Nachtclubs oder des öffentlichen Parks bleiben: Im öffentlichen Park braucht man einige Richtlinien, wie man sich zu verhalten hat.

Das Rathaus ist nicht einfach ein Haus, oder? Das Rathaus ist ein System von Normen, wie man abwechselnd spricht und zuhört. Diese Normen sind wichtig. Die taiwanesische Idee der Demokratie als eine Form der Technologie fängt diese Norm sehr gut ein. Die Leute melden sich nicht nur, um zu protestieren, wenn sie denken, dass mit dem bestehenden demokratischen Prozess etwas nicht stimmt.

Sie melden sich auch, um zu zeigen, wie die Dinge besser funktionieren könnten. Sie gestalten also mit, so wie wir verschiedene Software-Layouts oder Designs von öffentlichen Parks ausprobieren können.

Ich möchte hervorheben, dass man im letzten Jahrhundert oft gesagt hat: „Man muss gebildet sein, um an der Demokratie teilzunehmen.“ Heutzutage sagen wir: „Du musst Kompetenz haben, um an der digitalen Demokratie teilzunehmen.“

Der Unterschied zwischen Kompetenz und Bildung besteht darin, dass es bei der Bildung um das Empfangen geht. Bei der Kompetenz geht es um das Mitgestalten.

Audrey Tang im Medialab en Matadero, Madrid: „Kollektive Intelligenz für die Demokratie“, November 2016. Fotos: (1) David Fernández/LM, Flickr; (2/3) Álvaro Minguito/LM, Flickr; CC BY-SA 2.0

Wie erreicht man diese Kompetenz?

Anstatt den sehr jungen Menschen zu sagen: „Du musst ein Erwachsener sein, um an der Demokratie teilzunehmen“, sagen wir: „Nein, macht weiter und startet eure Bürgerinitiativen.“ Mehr als ein Viertel der Bürgerinitiativen sind digitale Demokratieplattformen, die von Menschen gestartet werden, die jünger als 18 Jahre alt sind, und die auch sehr wirkungsvoll sind, wie z.B. das Verbot von Plastikstrohhalmen in unserem Nationalgetränk, dem Bubble Tea.

Zentral dabei ist lebenslanges Lernen, die Solidarität zwischen den Generationen, das gegenseitige Mentoring. Wir wollen garantieren, dass die ganz jungen Leute die Agenda bestimmen können, damit sie sich in die Demokratie einbezogen fühlen, noch bevor sie erwachsen werden.

Was braucht es, damit die kommerziellen Sozialen Medien nicht antisozial sind?

Wenn sie bereit sind, prosozial zu handeln, könnten viele ihrer bestehenden Infrastrukturen positiv sein. Wenn sie dagegen nicht in einer prosozialen Art und Weise arbeiten, wissen sie, dass sie in Taiwan mit sozialen Sanktionen rechnen müssen.

„Wenn wir innerhalb von wenigen Stunden eine komödiantische Antwort auf toxische Inhalte ausrollen, motiviert das die Leute, Freude zu teilen und nicht Vergeltung oder Diskriminierung oder Rache. Der Schlüssel ist aber die zeitnahe Reaktion. Im Netz funktionieren die besten Pläne nicht, wenn Sie ein paar Tage warten.“

Wenn die Menschen bereits eine feste Vorstellung davon haben, was als Norm gilt, dann werden die multinationalen Medienunternehmen, die gegen die Norm verstoßen, große Schwierigkeiten haben, sich durchzusetzen.

Fehlt der Gesellschaft eine etablierte soziale Norm, zum Beispiel im Bereich Transparenz in der Wahlkampffinanzierung, dann können die Sozialen Medien den Staat natürlich einfach komplett ignorieren.

In Taiwan hat die Zivilgesellschaft buchstäblich das Parlament besetzt und Transparenz gefordert. Sie ist in das Nationale Rechnungsprüfungsamt spaziert, hat dort die die Berichte über die Wahlkampf-Ausgaben geholt und diese zu maschinenlesbaren Daten gescannt.

Audrey Tang am Eingang des Exekutiv-Yuan in Taipei, 2020
Die Cyber-Ministerin

Audrey Tang bricht mit 14 die Schule ab, beschließt mit 24 kein Mann mehr sein zu wollen, mit 35 wird sie Regierungsmitglied in Taiwan. Sie soll das Land zur digitalen Vorzeige-Demokratie machen.
Von Elise Landschek

Diese hart erkämpfte, radikale Transparenz hinsichtlich politischer Kampagnenfinanzierung wurde zur Norm. Facebook kann sich deshalb bei uns der gesellschaftlichen Forderung nicht verweigern, die politischen Werbeanzeigen in Echtzeit in öffentlich verfügbare Daten umzuwandeln. Ausländische Einmischung oder Finanzierung ist untersagt, ähnlich wie es bei der Wahlkampf-Finanzierung funktioniert.

Wir haben dafür kein Gesetz eingeführt. Es basiert einzig auf sozialen Sanktionen.

Um Fake News zu bekämpfen, setzen Sie auf den Slogan „humor over rumor“: Eine Software hilft, Desinformation in Sozialen Netzwerken zu erkennen. Bevor diese viral geht, setzen Sie in Taiwan also den Fake News Ihre eigene Botschaft entgegen, die die Fakten auf lustige Weise nachliefert. Das Ziel ist, dass sich die witzigen Fakten schneller verbreiten als die Desinformation. Zudem beschäftigen Sie Faktenprüfer. Haben wir das richtig verstanden?

Ja, unter den Faktenprüferinnen und -prüfer hat es viele Schülerinnen und Schüler. Das gehört auch zu der Kompetenz.

Gibt es ähnliche Instrumente, um Hass im Internet zu bekämpfen?

Personen können Inhalte für ein „Gegen-Infodemie-Tool“ wie beispielsweise Line markieren.

Wenn etwas markiert wird, zeigt das Dashboard auf der Line-Plattform an, was gerade im Trend liegt, ohne zu sagen, ob es sich um Desinformation, Betrug, Hassrede oder etwas anderes handelt. Sehr neutral, so als ob diese Nachrichten viral gehen würden.

Was viral ist, ist nicht unbedingt toxisch. Wenn es das aber ist, ermöglicht die frühzeitige Erkennung unseren Umgang damit: dass der Humor besser wirkt als das Gerücht – humor over rumor. Wenn man nur schon eine Nacht wartet, assoziieren die Leute diese viralen Memes bereits mit dem Langzeitgedächtnis.

Wenn wir innerhalb von wenigen Stunden eine komödiantische Antwort auf toxische Inhalte ausrollen, motiviert das die Leute, Freude zu teilen und nicht Vergeltung oder Diskriminierung oder Rache. Man fühlt sich dann besser. Der Schlüssel ist aber die zeitnahe Reaktion. Im Netz funktionieren die besten Pläne nicht, wenn Sie ein paar Tage warten.

Dieses Interview ist zunächst am 12. Mai 2021 auf „swissinfo.ch“ erschienen.

Jonas Glatthard –
studierte Politik- und Filmwissenschaften an der Universität Zürich, wo er seine Leidenschaft für Datenanalyse und internationale Filme entdeckte. 2020 stieß er zu swissinfo.ch, wo er sich um datengestützte Geschichten und Visualisierungen kümmert. Mehr von Jonas Glatthard

Bruno Kaufmann –
ist Koordinator des SWI „Democracy Beat“ und berichtet als Globaler Demokratiekorrespondent. Er wirkt zudem seit über dreißig Jahren für die SRG (Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft) als Auslandkorrespondent für das Schweizer Radio und Fernsehen SRF. Mehr von Bruno Kaufmann