bachrauf-Serie: Verkehrswende
Teil 5
Wie können wir ihn den Menschen zurückgeben? Wie lässt sich der Lieferverkehr neu organisieren? Was bringt eine Automatisierung des Verkehrs? Und welche Rolle spielen dabei Schiene, Rufbusse und Fahrräder?
In dieser Artikelreihe beschäftigt sich Fritz Vorholz mit sechs Vorschlägen für eine nachhaltige Verkehrswende.
Flandern macht schon mal den Anfang: De Lijn, ein staatliches belgisches Transportunternehmen, betreibt dort mit seinem „Flexbus“ eines der größten Rufbus-Systeme. Bei dem flexiblen Mobilitätsangebot „ridepooling on-demand“ handelt es sich um bedarfsgesteuerte Sammelfahrten, bei denen individuelle Fahrten („rides“) gebündelt („gepoolt“) und mit einem einzigen Fahrzeug bedient werden.
Der „Flexbus“ fährt eine Reihe von festen Haltestellen in den dünner besiedelten Gebieten von Flandern an, allerdings ohne Fahrplan und feste Route. Gebucht wird per App oder Telefon, Algorithmen berechnen, über welche Routen möglichst viele Menschen mit möglichst wenigen Fahrzeugen befördert werden können – und zwar am besten so, dass auch Anschlussverbindungen von Bahn oder Linienbussen erreicht werden. Mehr als 17.000 Kilometer legen die Busse werktäglich zurück, mit mehr als 3.000 Passagieren.
Längst werden solche Transportdienste on-demand weltweit vielerorts angeboten. In der ostenglischen Grafschaft Suffolk ebenso wie im polnischen Bielsko-Biala und in dem portugiesischen Gemeindeverbund Médio Tejo. „Damit wir Pendlern und Reisenden auch in Zukunft eine starke Alternative zum Autofahren anbieten können, brauchen wir flexible und digital vernetzte Angebote im Nahverkehr“, sagt auch Ina Brandes, Ministerin für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. Ihr Ministerium will ebenfalls verstärkt Ridepooling-Angebote schaffen, um mehr Menschen an den ÖPNV anzuschließen.
Bedarfsgesteuerte Sammelfahrten können insbesondere im ländlichen Raum, zwischen den Städten und Landkreisen, aber auch in den Nachtstunden der Städte für Entlastung sorgen
Zeitliche und räumliche Schwerpunkte lägen dabei laut einer Studie auf dem suburbanen beziehungsweise ländlichen Raum und den Nachtstunden in den Städten. Auch zwischen den Städten und Kreisen identifiziert die Studie einen großen Mobilitätsbedarf.
Egal ob England, Portugal, Kanada oder Deutschland – in den wenigsten Fällen decken die Einnahmen solcher Angebote die Kosten, insofern ist eine öffentliche Unterstützung beziehungsweise Finanzierung des Angebotes erforderlich. Diese kann aber unter Umständen sogar niedriger ausfallen als bei einem starren ÖPNV-Angebot mit wenig ausgelasteten Linienbussen.
Taxi statt Bus?
Die Kommunalpolitiker von Jinseki-Kogen, einem dünn besiedelten Flächenstädtchen mit 10.000 Einwohnern in der japanischen Präfektur Hiroshima, schufen vor einiger Zeit den Dorfbus ab. Bei Bedarf fahren an seiner Stelle jetzt Taxis; Leute ohne Führerschein, Ältere und Menschen mit Behinderung bekommen für die Taxinutzung einen Zuschuss.
Zwar wuchs der Verkehrsetat von Jinseki-Kogen dadurch etwas an, dennoch gilt die Umstellung als Erfolg. Nicht nur, weil mit den Taxis viel mehr Fahrten absolviert werden als früher mit dem Bus, sondern auch, weil fortan mehr ältere Menschen auf ihren Führerschein verzichteten und der Straßenverkehr dadurch sicherer wurde.
Auf ähnliche Weise versucht die Regierung Südaustraliens, besonderen Gruppen Mobilität zu ermöglichen: Rollstuhlfahrer erhalten einen Zuschuss für Taxifahrten, ebenso Menschen mit eingeschränkter Fähigkeit, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Derweil werden im kanadischen Innisfil/Ontario pro Person monatlich 30 Fahrten mit dem Uber-Fahrdienst subventioniert.
Die Einbindung des Taxigewerbes in den öffentlichen Nahverkehr hat einen Vorteil: Für die zusätzlich benötigte Verkehrsleistung wird bereits vorhandenes Personal und der bereits vorhandene Taxi-Fuhrpark eingesetzt, das senkt die Kosten.
Private Autos werden Teil des ÖPNV
In Frankreich sitzt in den meisten Autos nur eine Person: der Fahrer. Jeden Tag fahren deshalb 200 Millionen Pkw-Sitze unbesetzt herum, viele davon in ländlichen Regionen – während gut die Hälfte der dort lebenden Bevölkerung mehr als 10 Gehminuten von der nächsten Bushaltestelle entfernt wohnt. Ecov, ein französisches Start-up, entwickelte eine innovative Lösung für das Problem: Carpooling in Echtzeit.
Mitfahrgelegenheit gesucht? Dank digitaler Unterstützung geht das sehr spontan. Das „Covoiturage“ genannte System funktioniert fast wie ein Bus: mit festen Haltepunkten und Fahrtstrecken, aber ohne Fahrplan und lange Wartezeiten. Fahrtwünsche und -ziele werden per App oder SMS angemeldet, an mit Rufsäulen ausgestatteten Haltepunkten auch per Knopfdruck; teilnehmende Autofahrer werden umgehend informiert, ebenfalls per App oder durch beleuchtete Schilder an den Haltepunkten.
Aus einem privaten Pkw wird auf diese Weise ein teil-öffentliches Fahrzeug. 60 Linien in verschiedenen Regionen Frankreichs hat Ecov gemeinsam mit den für den Nahverkehr zuständigen Behörden inzwischen entwickelt. Die bezahlen den Fahrern für jeden mitgenommenen Passagier einen Euro, mancherorts auch zwei, während die Passagiere meist nichts zahlen müssen.
Wartezeiten von oft nur wenigen Minuten machen das System attraktiv. Bei einer Befragung von Teilnehmern eines der Ecov-Netzwerke gaben 80 Prozent an, zuvor als Solo-Fahrer unterwegs gewesen zu sein. Mehr als jeder Fünfte hat nach eigenen Angaben ein Auto verkauft, berichtet Thomas Matagne, Präsident von Ecov. Für gesellschaftlichen Mehrwert ist laut Ecov ohnehin gesorgt: weniger Verkehr, weniger Stau, weniger CO2-Emissionen – aber mehr Kaufkraft. 1.500 Euro spart ein durchschnittlicher Nutzer jährlich.
Der Text erschien zuerst in „tomorrow“, dem Technologiemagazin von Schaeffler Technologies AG & Co. KG, und wurde für bachrauf.org aktualisiert/modifiziert.
Zu Teil 6: Den Globalen Süden vernetzen
Zu Teil 4: Ausbau von Bahn-Systemen
Zu Teil 3: Autonomes Fahren
Zu Teil 2: Liefersysteme verbessern
Zu Teil 1: Stadt neu denken
Dr. Fritz Vorholz –
studierte in Köln Volkswirtschaft und Soziologie. Nach dem Studium arbeitete er für den Sachverständigenrat für Umweltfragen und von 1988 bis 2015 als Redakteur für die „Zeit“. Von 2016 bis Anfang 2020 leitete er die Strategische Kommunikation von Agora Verkehrswende. Seit Frühjahr 2020 arbeitet er wieder als Journalist, freiberuflich.