Foto: Tom Mustroph

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Hoffnung erblüht mitten im früheren Hotspot der Corona-Pandemie. Im Val Seriana, einem vom Virus massiv betroffenen Tal in der Nähe Bergamos, baut Mauro Barcella Blutanalysegeräte für medizinische Labors. Seine Maschinen sind bereits in zahlreichen Krankenhäusern Norditaliens im Einsatz und spüren dort Antikörper auf. Barcella, gelernter Ingenieur vom Politecnico in Mailand, tüftelt aber auch ganz neue Geräte für bessere Therapien gegen Covid-19 aus. Und er baut mobile Analyseapparaturen für den Einsatz in ländlichen Regionen Afrikas. Ein Daniel Düsentrieb mit echtem Diplom, mitten im Herzen der Pandemie.

Mauro Barcella kommt mit seiner Moto Guzzi zum Treffpunkt. Von Weitem schon hört man die Maschine röhren, wenn sie durchs schmale Val Seriana fährt. Am Ortsausgang von Albino hat er seine Firma. Eine Autowerkstatt befindet sich gegenüber, daneben ein Fitnesszentrum. Hinter seinem Firmengelände sind Werkhallen von Maschinenbaubetrieben auszumachen, dahinter Zementfabriken. Das Val Seriana ist eines der industriellen Herzen Italiens.

Mauro Barcella in seiner Produktionshalle in Bergamo.
Mauro Barcella. Foto: Tom Mustroph

Barcella ist stolz darauf. „Es ist eine prosperierende Gegend. Wer hierherkommt, findet Arbeit. Die Talsohle ist voll von Fabriken. Steigst du aber aus dem Tal hoch, bist du sofort im Wald, mitten unter den Tieren.“

Während des ersten Lockdowns hat er den Wald wieder schätzen gelernt, ist viel wandern gegangen, sagt er. Immer schön Abstand halten dabei. Das industrielle Herz hingegen schlug in vermindertem Tempo. Die Region wurde zum Corona-Hotspot, spätestens als im Krankenhaus von Alzano Lombardo, etwa vier Kilometer von Albino entfernt, die ersten beiden Covid-19-Patienten der Provinz Bergamo registriert wurden. Das war am 23. Februar 2020. Einen Tag später war einer der Infizierten bereits tot. Angesteckt hatten sich mehrere Krankenhausmitarbeiter und auch einige Patienten, die im Wartezimmer der Notaufnahme neben ihm saßen. Etwa einen Monat später zählte Alzano, Einwohnerzahl etwa 14.000, 110 Tote. Im Vorjahreszeitraum waren es zehn. Im Nachbarort Albino, etwa 18.000 Einwohner, waren im März 2020 sogar 145 Tote zu beklagen.

„Es war ganz logisch, dass das Virus hierherkam. Das große Problem liegt nicht in der Beantwortung der Frage, wer es hergebracht hat, sondern darin, dass man sein Eintreffen nicht vorausgesehen hat“, sagt Barcella rückblickend. „Wir haben jede Menge Unternehmen, die mit der ganzen Welt arbeiten, mit Deutschland, China, Afrika, Amerika. Wenn das Virus nicht von einem Ort gekommen wäre, dann von einem anderen. Das ist das eigentliche Problem, dass man daran nicht gedacht hat“, erklärt er. Mit leiser Stimme fügt er hinzu: „Es ist aber auch einfach, all das nachher zu sagen.“

„Wir konnten den Toten nicht mal sehen“

Barcella hat selbst Familienmitglieder während der Pandemie verloren. Ein Onkel starb bereits im März. Schlimmer noch als der Tod selbst war für Barcella die Hilflosigkeit – und dass es nicht möglich war, die Sterbenden auf ihrem letzten Weg zu begleiten. „Erkrankte ein Verwandter, wurde er sofort isoliert auf der Intensivstation. Man konnte da nicht mehr rein, hat ihn nicht mehr gesehen. Die Ärzte haben ihr Möglichstes getan, natürlich. Dann kam die Nachricht, dass er gestorben sei. Man hat uns erlaubt, den Sarg mitzunehmen. Aber er war verschlossen. Der Tote war ja infiziert, das Virus weiter aktiv. Wir konnten den Toten nicht mal sehen, ihn schon gar nicht berühren. Auf dem Friedhof ging gar nichts, Menschenansammlungen waren verboten. Jetzt, letzten Montag, haben wir die Pseudobeerdigung gemacht, zwei, drei Monate später“, sagt Barcella, und seine Hände trommeln vor Anspannung auf der Tischplatte.

Für ihn, wie für viele andere Menschen in der Provinz Bergamo, war die Tatsache, dass ihre Nächsten starben und sie sie nicht auf ihrem letztem Weg begleiten und auch nicht festlich beerdigen konnten, der schlimmste Aspekt der Pandemie. Denn man war als soziales Wesen nicht mehr existent, konnte nicht mehr tun, was Religion, Tradition und Kultur als selbstverständlich erachten.

„Diese Stromversorgung hier kann man abbauen und stattdessen einen Solarkollektor anschließen oder eine Autobatterie mit 24 Volt. Damit ist man mobil, kann in weit entfernte Ortschaften und auch dort testen, wo das Virus hinkommt, aber weit und breit kein Krankenhaus in der Nähe ist.“

Von diesem Schmerz ließ sich Barcella nur einige Momente hinreißen. Dann verwandelte er ihn in Tatkraft. Denn seine Firma AST Biomedical baut Geräte, die im Kampf gegen die Pandemie schweres Geschütz darstellen. Seine Blutanalysegeräte sind auch für Antikörpertests geeignet. „Als die Pandemie ausbrach, hatten wir sechs Apparate in der Endfertigung. Um die Covid-Tests zu machen, mussten wir sie allerdings umrüsten. Wir haben sie also demontiert, einen Teil der Technik herausgenommen und andere eingebaut. Binnen eines Monats haben wir das geschafft“, erzählt Barcella stolz. Drei Handwerker musste er dafür aus dem Lockdown holen – einen Mechaniker, einen Schlosser und einen Maler.

Die Analysegeräte sind inzwischen an mehreren Standorten in Norditalien im Einsatz. In der Montageabteilung werden derzeit weitere zehn Maschinen zusammengebaut. Sie gehen in afrikanische Länder. „Dort gibt es gegenwärtig nicht so viele Geräte. Diese hier sind für die besonderen Anforderungen hergerichtet. Sie sind klein, sehr robust, präzise und zuverlässig. Diese Stromversorgung hier kann man abbauen und stattdessen einen Solarkollektor anschließen oder eine Autobatterie mit 24 Volt. Damit ist man mobil, kann in weit entfernte Ortschaften und auch dort testen, wo das Virus hinkommt, aber weit und breit kein Krankenhaus in der Nähe ist“, erzählt Barcella voller Enthusiasmus.

Blutanalysegeräte gegen Covid-19 für neue Covid-Therapien werden hier gebaut.
Die Fertigungshalle. Foto: Tom Mustroph

Man spürt dabei, wie wichtig es dem Ingenieur ist, nicht nur an das eigene Land, die eigene leidende Bevölkerung zu denken, sondern auch an die, deren Gesundheitssysteme noch prekärer sind. Den Weitblick nicht verloren zu haben im eigenen Elend, das scheint in diesem Moment die größte Qualität dieses Mannes.

Erfahrungen in Pisa und Tschernobyl

Mit Katastrophen, mit komplexen Problemstellungen kennt sich Barcella ohnehin gut aus. Im Kundenbereich seiner Firma sind Fotos vom schiefen Turm von Pisa und vom Reaktorsarkophag in Tschernobyl ausgestellt. „Für den Turm haben wir die Sensoren gebaut, die die Neigung berechnen. Und in der zweiten Zementhülle des havarierten Reaktors messen wir, wie sich die Risse ausbreiten“, sagt Barcella.

Die Covid-19-Pandemie will er ebenfalls mit innovativer Technik zu begrenzen helfen. „Alle reden vom Impfstoff, immer wieder Impfstoff, Impfstoff. Für mich ist es aber wichtig, zuerst eine Sache zu verstehen. Ich argumentiere hier als Techniker, als Ingenieur. Ich will verstehen, wie sich das Virus verbreitet, in welchen Personen mehr, in welchen weniger. Und ich will wissen, wie die Antikörper wirken. Wie lange halten sie bei wem vor? Nur so kann man wissen, wie man ein Medikament effektiv dosieren muss“, erzählt er. Für Ärzte, die das ebenfalls wissen wollen, entwickelt er deshalb Analysegeräte, die auch die leicht positiven Befunde anzeigen, die bei gröberen Verfahren mit negativen Resultaten rausgehen.

Und noch einen Ansatz verfolgt er. Gemeinsam mit einem Mediziner aus der Gegend, der rund 25 Jahre seines Lebens in den USA verbrachte und nun aus einem Forschungszentrum in San Diego zurückgekehrt ist, versucht er, einen Apparat zu entwickeln, der herausfindet, warum das Virus bei manchen Menschen aggressiver ist als bei anderen. „Es scheint mit der Blutgerinnung zu tun zu haben. Oft starben die Leute an Thrombose: Thrombose überall, im Herzen, in der Lunge, der Niere, der Leber.“

Wer zu Thrombosen neigt, droht schwerer an Corona zu erkranken und schneller zu sterben. Auf diesen Zusammenhang machte bereits eine Studie aus Wuhan aufmerksam. Pathologen des Hamburger Universitätsklinikums stellten bei Obduktionen von gestorbenen Corona-Patienten ebenfalls eine Häufung von Thrombose-Symptomen fest. Sie fanden bei der Hälfte der Toten Blutgerinnsel in den Venen. Blutklumpen verstopften die Blutgefäße der Lunge, was zu Lungenembolien führte. „Erkennt man rechtzeitig eine Thromboseneigung, kann man bei diesen Patienten mit einer speziellen Therapie beginnen und so den Krankheitsverlauf mildern“, hofft Barcella.

Er ist Ingenieur, ein Techniker, der ein Problem analytisch betrachtet und dann seine Kreativität einsetzt, um es zu lösen. „Ich sage den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite, immer: ‚Denke zehn falsche Dinge. Unter den zehn falschen wird vielleicht eine Sache sein, die funktioniert.‘“

Dass Barcella ausgerechnet in der Nähe Bergamos, mitten im früheren Hotspot der Pandemie, an einer innovativen Lösung arbeitet, erfüllt den alten Vers von Friedrich Hölderlin mit neuem Leben: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, schrieb er in seiner „Patmos“-Hymne. Es ist, als hätte der dem Spaziergang zugeneigte Dichter aus Württemberg dabei schon an den Tüftler mit der Moto Guzzi im Tal bei Bergamo gedacht.

Dieser Artikel ist zunächst im Juli 2020 auf „nd-aktuell.de“ erschienen.

Tom Mustroph –
ist in Berlin und Palermo als freier Autor und freier Dramaturg tätig. Dabei interessiert ihn in erster Linie, wie selbstverantwortliches Arbeiten elegant und unter Einhaltung moralischer Mindeststandards in so unterschiedlichen Subsystemen wie Kunst, Sport und Wirtschaft gelingen kann. Er publiziert unter anderem für „taz“, „FAZ“, „Neues Deutschland“, „NZZ“, „Zeit online“, Deutschlandfunk und WDR.