Audrey Tang ist nicht aus der Ruhe zu bringen. Lächelnd sitzt sie in einem Konferenzsaal in Taipeh und stellt sich den Fragen der Journalisten, während ihr Assistent neben ihr leise auf das Ende drängt und an den vollen Terminkalender erinnert. Ihre Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen, nebenbei bedient sie fast ohne hinzuschauen ihr Tablet, hat in Sekundenschnelle Zahlen, Fakten, Webseiten parat. Hinter der äußeren Ruhe steckt ein schneller Geist, 180 soll ihr IQ betragen. „Wunderkind“, „Genie“, „digitale Revolutionärin“ heißt es über sie. Die Leser des Magazins Foreign Policy wählten sie zu den weltweit 100 wichtigsten Denkern des Jahres 2019.
Auf der Straße würde sie kaum auffallen und wer sie nicht kennt, käme nicht auf die Idee, dass dies Taiwans Ministerin für Digitales ist. Etwas blass um die Nase, die langen Haare strähnig, der Körper verschwindet fast in einem kastenförmigen grau-schwarzen Pullover. Das Klischee des Computer-Nerds drängt sich auf, tatsächlich ist an Audrey Tang allerdings so gar nichts klischeehaft.
1981 wird sie als Kind zweier Journalisten in Taiwans Hauptstadt Taipeh geboren, als Junge. Autrijus heißt sie damals noch. Doch das Gefühl, eigentlich zwei Geschlechter zu haben, erwacht schon früh. Mit acht Jahren bringt sie sich, nur mithilfe eines Buchs, das Programmieren selber bei, zunächst ohne Computer, nur mit Stift und Papier. Mit 14 schmeißt sie die Schule, der Unterricht langweilt sie, mit Gleichaltrigen kann sie nichts anfangen. Von nun an lernt sie im Internet, was sie interessiert und schreibt sich für Kurse an der Nationaluniversität in Taipeh ein. Und so geht es immer weiter. Mit 15 programmiert sie eine Suchmaschine für Liedtexte auf Mandarin, ihr erstes Start-up, eines von vielen, die noch folgen werden. Als „bürgerliche Hackerin“ bezeichnet sie sich selbst. Schon bevor sie volljährig ist, werden Firmen im kalifornischen Silicon Valley auf die IT-Spezialistin aufmerksam. Mit 19 arbeitet sie für Firmen wie Apple, als Beraterin. Mit 24 entscheidet sich Autrijus, kein Mann mehr sein zu wollen und nennt sich von nun an Audrey. Auf die Geschlechtsangleichung verzichtet sie, nur die Barthaare lässt sie sich entfernen. Welches Personalpronomen man für sie verwende, ob nun „sie“ oder „er“, sei ihr relativ egal, sagt sie. Audrey Tang bezeichnet sich selbst als „post-gender“.
Mit 33 Jahren beschließt sie, die Arbeit im Silicon Valley an den Nagel zu hängen und in den Ruhestand zu gehen. Doch diese Ruhe währt nicht lange. 2014 besetzen in der Heimat Taiwan Studenten das Parlamentsgebäude, als Protest gegen die Annäherung an China durch ein umstrittenen Dienstleistungsabkommen. Audrey besucht die Protestierenden in ihrem Camp, liefert ihnen schnelles Internet und twittert täglich über die Aktionen. Die Besetzer werden zwar nach 24 Tagen von der Polizei geräumt, doch einige Tage später können sie es selbst kaum fassen: das Abkommen wird zurückgezogen. Der Protest war erfolgreich.
Während der Sonnenblumenbewegung vom 18. März bis zum 10. April 2014: 24 Tage lange besetzen etwa 400 vorwiegend studentische Demonstranten das Parlamentsgebäude (die „Legislativ-Yuan“) in Taipeh. Im Foto der besetzte Plenarsaal. Foto: Kevin-WY, Taichung/Taiwan , CC BY-SA 2.0, Quelle: commons.wikimedia.org
Zwei Jahre später verliert unter anderem wegen der Proteste die regierende konservative Kuomintang die Macht, die liberale und chinakritische Fortschrittspartei, kurz DPP, unter Präsidentin Tsai Ing-Wen übernimmt das Ruder. Die Wahl bedeutet auch einen Generationswechsel, die Regierung holt mehrere führende Köpfe der Protestbewegung, alle unter 35 Jahren, ins Kabinett.
Schon während der Proteste sind Taiwans neue Machthaber auch auf Audrey Tang aufmerksam geworden. Der damalige Premiermininster Lin Chuan tritt an sie heran, bittet sie, einen Ministerposten zu übernehmen.
Sie soll nicht nur eine neue Digitalstrategie für Taiwan entwerfen, Taiwans Wirtschaft voranbringen und den Kampf gegen Cyberattacken und Fake News aus dem Ausland aufnehmen, sondern die Demokratie in Taiwan auf ein neues Fundament stellen, nämlich ein digitales.
Es geht dabei um alles, nämlich um Taiwans Existenz. Der übermächtige Nachbar China betrachtet Taiwan immer noch als Teil seines Territoriums und lässt nicht nach, alle Autonomiebestrebungen der Taiwaner zu untergraben. 23 Millionen Einwohner hat die Insel, nur die schmale Formosastraße trennt sie vom Festland und seinen autoritären Machthabern. Von der internationalen Gemeinschaft weitgehend ignoriert – nur 15 Kleinststaaten erkennen Taiwan überhaupt als eigenständiges Land an – ist der kleine Staat im Kampf gegen die Übernahmegelüste Chinas weitgehend sich selbst überlassen.
Während Chinas kommunistische Führung immer behauptet, die Chinesen eigneten sich nicht für Demokratie, tritt Taiwan nun den Gegenbeweis an. Nicht das Volk soll durchleuchtet werden, sondern die politische Führung. Nach kurzem Zögern nimmt Tang das Angebot des Premierministers an, doch sie stellt eine Bedingung: nicht ständig in einem Büro sitzen zu müssen. Der Premier akzeptiert. Audrey Tang ist damit die jüngste Ministerin, die Taiwan je hatte und die erste Transgender-Ministerin weltweit.
Im Jahr 2016 beginnt Audrey Tang mit ihrer revolutionär anmutenden politischen Demokratie-Arbeit, obwohl sie selbst das Wort „Revolution“ nicht passend findet. Sie sei eine „konservative Anarchistin“, die zwar gegen Herrschaft, aber auch gegen den gewaltsamen Umsturz sei.
„Ich nehme keine Befehle entgegen und erteile keine Befehle“, ist so ein Satz, den sie oft sagt. Sie arbeite nicht für die Regierung, sondern mit der Regierung. Das bedeutet, dass sie keiner Partei nahesteht und Wählern und Politiker aller Lager – ob konservativ oder liberal – gleichermaßen zuhört. Alle Gespräche mit Ministeriumsmitarbeitern, genauso wie alle Presseinterviews, stehen hinterher im Wortlaut im Netz. Parlamentsdebatten werden live gestreamt. Transparenz ist für Tang das oberste Gebot. Denn nur damit lässt sich in der Bevölkerung Vertrauen schaffen, die Voraussetzung für mehr Teilhabe an demokratischen Prozessen.
Alle Macht geht vom Volke aus – Audrey Tang nimmt das wörtlich. Und sie traut diesem Volk eine Menge zu. Grundlage für mehr direkte Demokratie ist für Tang die Kommunikation über das Internet. „Hier in Taiwan soll jeder einen Breitband-Internetanschluss haben, selbst auf den entlegensten Inseln. Das ist bei uns ein Menschenrecht.“
Auf eine andere Website werden geplante Parlamentsbeschlüsse zur Diskussion für alle gestellt. Als zum Beispiel 2015 der Fahrdienst Uber in Taiwan eingeführt werden sollte, beteiligten sich mehrere Tausend Menschen im Internet an einer Pro- und Kontra-Diskussion. Die kritischen Stimmen überwogen. Jetzt gibt es Uber zwar auf der Insel, aber in deutlich abgespeckter Version und mit deutlich mehr Regeln.
Natürlich werden auf den Plattformen und bei Petitionen auch Daten gesammelt, es geht gar nicht anders. „Aber wir unterscheiden zwischen privaten und öffentlichen Daten: private werden geschützt, öffentliche für alle nutzbar gemacht.“ So sagt es Audrey Tang und setzt auf das Vertrauen der Taiwaner. Für die Sicherheit im Parlament hat sie das Tool „Sandstorm“ eingerichtet. Das soll auch möglichen Datenfängern aus China trotzen.
Auch persönlich ist sie erreichbar, jeden Mittwoch zwischen zehn Uhr morgens und zehn Uhr abends. Sie sitzt dann im Social Innovation Lab, einem Coworking Space im Herzen Taipehs. In dem ehemaligen Bunker der taiwanischen Luftwaffe empfängt Tang für zwanzig Minuten jeden, der online einen Termin gebucht hat. Am Dienstag fährt sie durchs Land und schaut sich vor Ort an, was noch verbessert werden kann, auch dafür kann man sie einladen. Montags und Donnerstags ist sie für die Parlamentsmitarbeiter erreichbar, ansonsten schreibt sie an neuen Programmen für noch mehr Teilhabe und reagiert auf Falschmeldungen aus China mit witzigen Posts.
Große Aufgaben, und dabei wirkt Tang so, als könne sie nichts aus der Ruhe bringen. Woher nimmt sie all diese Gelassenheit? Nun, sie habe als Kind einen Herzfehler gehabt, erzählt sie. Ihr CO2-Gehalt im Blut sei so hoch gewesen, als sei sie ständig auf Himalaja-Expedition. Das habe dazu geführt, dass sie häufig in Ohnmacht gefallen sei. Nach einer OP gehe es ihr zwar schon seit Langem besser, aber sie achte nach wie vor darauf, sich niemals in unnötigen Stress versetzen zu lassen und nur Dinge zu tun, die ihr Spaß machten. „Ich selbst bin nicht wichtig“, sagt sie. „Ich lebe für meine Arbeit an der Demokratie. Das ist meine größte Freude.“
Dieser Artikel ist zunächst im Januar 2020 in der „Berliner Zeitung“ erschienen.
Elise Landschek –
hat in Berlin Politik studiert und danach beim NDR volontiert. Als Autorin für Radio-Features und Reportagen reist sie um die Welt oder findet Geschichten direkt vor der Haustür. Nebenbei dreht sie Filme und schreibt für „Zeit online“, den „Spiegel“ sowie die „Berliner Zeitung“.