Die Organsammlung des Berliner Naturkundemuseums muss bald um eine Abteilung erweitert werden. Weltweit sind 3D-Drucker installiert, die Schicht um Schicht menschliches Gewebe produzieren. Ein Herz und ein Ohr gibt es bereits. Das Herz, von einem Forscherteam der Universität Tel Aviv aus bearbeiteten menschlichen Zellen gedruckt, war 2019 einer der Preisträger des internationalen Designwettbewerbs 3D Pioneers Challenge.
Es hatte zwar nur die Größe eines Nagerherzens, wies aber die immunologischen, zellulären und anatomischen Eigenschaften eines menschlichen Herzens auf. Das Ohr wurde schon 2014 von der Künstlerin Diemut Striebe entwickelt. Sie besorgte sich Knorpelzellen eines Nachfahren des Malers Vincent van Gogh und ließ van Goghs linkes Ohr so ausdrucken, wie es vor dem berühmten Selbstverstümmelungsschnitt ausgesehen haben mochte. Ohr wie Herz waren in Flüssigkeiten getaucht und wirkten tatsächlich wie Präparate des Naturkundemuseums.
Von einer Serienfertigung von Organen ist die Industrie zwar noch weit entfernt. Aber es gibt eine beachtliche Breite von Anwendungen. Kein Wunder – denn die Humanmedizin stellt für 3D-Druck ein ideales Erprobungsfeld dar. „3D-Druck braucht digitale Daten als Vorlage. In der Medizin waren sie durch bildgebende Verfahren wie MRT und CT gegeben. Diese Scans werden selbst Schicht um Schicht vorgenommen. Und genauso funktioniert auch die additive Fertigung der 3D-Drucker“, erzählt Kristof Sehmke vom belgischen Unternehmen Materialise.
Materialise, 1990 gegründet, ist einer der Pioniere der Szene. Die Firma hat laut Sehmke mehr als 350.000 individuelle Organmodelle gedruckt. Es sind keine funktionierenden Organe, sondern statische 1:1-Kopien aus Kunststoff. Eingesetzt werden sie zur Vorbereitung von Operationen. Chirurg*innen können üben, die Fehlerquote sinkt. Und Patient*innen verstehen die Eingriffe besser. Solche Modelle stellt für hiesige Krankenhäuser auch das Wildauer Unternehmen Humanx her.
„Es fühlt sich wie echtes menschliches Gewebe an“
Bereits pulsierende Herzen produziert die französisch-amerikanische Firma Biomodex. „Es fühlt sich wie echtes menschliches Gewebe an“, erzählt Biomodex-Chef Ziad Rouag. Selbst ein Blutersatzstoff strömt durch die künstlichen Herzkammern – noch realistischeres Üben ist also möglich. „Wir bekommen CT- und Ultraschallaufnahmen der geschädigten Organe. Daraus programmieren wir 3D-Modelle, die als Vorlage für die 3D-Drucker dienen“, erklärt Rouag. Francois Eugene, Radiologe aus dem Krankenhaus Rennes und Anwender der Modellherzen, betont den Nutzen für Patient*innen und Ärzt*innen: „Wir können damit die Dauer der Röntgenbestrahlung verringern, geeignete Operationswerkzeuge auswählen und haben bei den Simulationen ein genaues biomechanisches Feedback.“
Die transseptale Punktion (TP) ist ein nicht ganz einfacher Eingriff, den Kardiologen vornehmen, um Zugang zum linken Vorhof des Herzens zu erhalten, z.B. bei der Behandlung von Vorhofflimmern und anderen strukturellen Herzerkrankungen. Die humanisierten 3D-Modelle der Firma Biomodex bieten Ärzten in Schulungen die Möglichkeit, Erfahrungen an diesen komplexen Anatomien zu sammeln. Foto: Biomodex
Gedruckt wird mit Geräten der israelisch-US-amerikanischen Firma Stratasys – wie Materialise schon mehr als 30 Jahre im Geschäft. „Seit zwei, drei Jahren legen wir einen Schwerpunkt auf „digitale Anatomie“, das Drucken von biomechanisch exakten Teilen. Dafür haben wir Materialien für Gewebe, für Knochen und für den Blutkreislauf entwickelt“, erläutert Ben Klein, Chef der Abteilung für medizinische Modelle. Die Harze werden im Polyjet-Verfahren als flüssige Tropfen auf die Oberfläche aufgebracht und durch UV-Licht ausgehärtet.
Eine alternative Technologie ist das Selektive Lasersintern (SLS). Hier liegt das Ausgangsmaterial in Pulverform vor. Ein Laser brennt Schicht um Schicht einzelne Voxel – dreidimensionale Bildpunkte – auf die Basisplatte. Die Auflösung beim 3D-Druck ist sogar höher als bei den Bild gebenden Verfahren der Vorlage. „Wir drucken auf eine Genauigkeit von 0,2 mm, CT und MRT liegen meist bei 1mm“, erzählt Klein. Lasersintern ist auch mit anderen Materialien wie Metallen möglich.
Materialise stellt individuelle Knochenimplantate aus Titan her. Sie werden vor allem dann angefertigt, wenn die herkömmlichen standardisierten Implantate, die es in verschiedenen Größen gibt, für den spezifischen Fall ungeeignet sind. Ein Vorteil der Einzelfertigung ist auch, dass die auf den individuellen Knochenbau abgestimmten Implantate besser „passen“ – medizinische Maßschneiderei anstelle des Knochenersatzes „von der Stange“.
Eine äußerst komplexe Operation gelang im Februar 2021 einem Team aus Medizinern und Technikern von Materialise am Universitätskrankenhaus New York. Einem 22jährigen männlichen Unfallopfer wurden Teile der beiden Hände und des Gesichts implantiert. Zunächst wurden Scans von Händen und Schädel vorgenommen. Anhand eines dem Patienten anatomisch sehr ähnlichen Schädels wurde ein Digitalmodell erstellt. Dies wurde durch Gewebeschichten ergänzt und schließlich gedruckt. Das Modell diente zur Operationsvorbereitung am Patienten und zur Planung der Entnahme von Knochen und Gewebe beim Spender.
Bis zur Entwicklung von transplantationsfähigen Organen braucht es noch Zeit
Andere Einsatzgebiete liegen in der Pharmaforschung. Die Schweizer Firma REGENHU stellt Hautersatz her, an dem neue Medikamente und Kosmetika getestet werden. Dabei handelt es sich aber nicht um menschliches Gewebe, betont REGENHU-Geschäftsführer Simon Mackenzie.
Marktführer im Drucken von biologischem Material ist derzeit die US-Firma Organovo. Nach eigenen Angaben gelang ihr bisher die Produktion von Gewebe für Leber, Niere, Haut, Blutgefäße und Knochen. Bis zur Entwicklung von transplantationsfähigen Organen aus dem Drucker dauert es nach Einschätzung von Branchenkennern aber sicher noch zehn Jahre.
In Berlin baut die TU-Ausgründung Cellbricks 3D-Drucker, die Zellkulturen von Leber und Plazenta ausbringen. Im Rahmen des Projekts 3D-Bio-Net wurde an der Uni Freiburg ebenfalls ein Bio-Drucker entwickelt. Und auch Nadav Noor, dessen Institut aus Tel Aviv das erste menschliche Herz gedruckt hat, forscht weiter. „Wir druckten bereits mit menschlichen Zellen, und wir konnten auch die Blutgefäße drucken. Die Herausforderung ist jetzt, wie man Zellen länger aufbewahren und Gewebe und Organe wachsen lassen kann. Das proben wir jetzt unter Laborbedingungen. Ist das erfolgreich, wären Transplantationen bei Tieren der nächste Schritt“.
Parallel deutet sich die Entwicklung zum 4D-Druck an. Die vierte Dimension ist hier die Zeit. Gedacht wird dabei, wie unter anderem eine chinesische Forschergruppe um Bin Gao vom Militärkrankenhaus Xian bereits 2016 publizierte, an das Aufbringen von Zellkulturen, die wachsen und biologische Prozesse auslösen. Höchste Zeit also, sich um die ethischen Dimensionen zu kümmern.
Der ethische Diskurs
Markus Christen, Philosoph und Neuroinformatiker an der ETH Zürich, sieht vor allem das Problem der Materialbeschaffung. „Wie gewinnt man die Zellen, woher kommt das Rohmaterial? Kommt es aus der 3. Welt? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen?“, fragt er – und zieht einen Vergleich zum Abbau von seltenen Erden für die Handyproduktion.
Niki Vermeulen, Wissenschaftshistorikerin an der Universität Edinburg, verweist auf Eigentums- und Urheberrechtsprobleme: „Wem gehört das gedruckte Organ – dem Patienten, aus dessen Daten es gewonnen wurde und bei dem es eingesetzt ist? Der Firma, die es druckte? Dem Krankenhaus, dessen Mediziner es implantierten? Wer haftet im Schadensfall? Dafür braucht man Regelungen, und das auf internationaler Ebene, um Medizintourismus zu verhindern.“
Immerhin beschäftigt sich die EU damit. Das Referat Wissenschaftliche Vorausschau legte dem Europaparlament bereits 2018 ein Papier über ethische und juristische Aspekte beim 3D-Druck in der Medizin vor. Darin wurde unter anderem die dezentrale Produktionsweise als regulatorisch herausfordernd betrachtet. Ein Problem stellt auch dar, dass es sich um biologische und nicht-biologische Materialíen handelt, deren Produktion, Transport und Lagerung von jeweils unterschiedlichen Verordnungen geregelt werden.
Nicht zuletzt steht das Menschenbild auf dem Prüfstand. Eine Sache ist es, mittels 3D-Druck den Körper zu „reparieren“, eine andere, ihn mit neuen Instrumenten zu erweitern. In Deutschland wird 3D-Druck in der Medizin bereits vielfältig angewandt. „Das Netzwerk aus Universitäten, Start-Ups und etablierten Firmen ist groß. Die Bandbreite reicht vom Bau anatomischer Modelle für die Operationsvorbreitung über Zellkulturen für die Pharmaforschung bis hin zur Produktion von Prothesen und Orthesen.
Weitere Anwendungsgebiete sind der Druck von medizinischen Spezialwerkzeugen und Ersatzteilen sowie zukünftig der von Medikamenten,“, erzählt Cora Lüders-Theuerkauf vom Berliner Netzwerk Mobility Goes Additive. Sie erhofft sich durch passgenaue Fertigungen auch eine gendergerechtere Medizin. Vor allem Medikamentendosierungen gehen meist noch immer vom männlichen Normpatienten aus.
Für größere Akzeptanz von 3D-Druck in der Medizin dürfte auch sorgen, dass bei Pharmatests anstatt von Tieren oder menschlichen Testpersonen auf gedrucktes Gewebe zurückgegriffen werden kann.
Den Durchbruch von 3D-Druck, verbunden mit einem Herauswachsen aus der Bastler-Ecke, sieht Justus Bobke, Vorsitzender des Branchenverbands 3D Druck in Deutschland, ohnehin erst dann, wenn das erste gedruckte Herz bei einem Menschen erfolgreich eingesetzt wurde. Bisher schwimmt das Kunstherz der 3D Pioneers Challenge nur in einem transparenten Behältnis.
Und van Goghs drittes Ohr ist aus dem Ausstellungshaus des ZKM Karlsruhe längst wieder abgebaut. Aber es wird geforscht und gewerkelt. Eine Diskussion darüber, was im Namen der Forschung und zum Frommen der Risikoinvestoren, die viel Geld in die Startups gesteckt haben, geschieht, ist dringend notwendig.
Dieser Artikel ist im April 21 in einer kürzeren Form auf „nd“ (Neues Deutschland) erschienen.
Tom Mustroph –
ist in Berlin und Palermo als freier Autor und freier Dramaturg tätig. Dabei interessiert ihn in erster Linie, wie selbstverantwortliches Arbeiten elegant und unter Einhaltung moralischer Mindeststandards in so unterschiedlichen Subsystemen wie Kunst, Sport und Wirtschaft gelingen kann. Er publiziert unter anderem für „taz“, „FAZ“, „Neues Deutschland“, „NZZ“, „Zeit online“, Deutschlandfunk und WDR.